Eine Einmannshow ist die Türkei noch lange nicht. Doch es scheint nicht ohne ihn zu gehen: Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte das Land einst stabilisiert - jetzt droht er es endgültig in die Krise zu führen.

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Beinahe täglich dreht sich derzeit die Berichterstattung aus der Türkei um die Gefährdung der innen- und außenpolitischen Sicherheit. Welche Rolle Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan dabei spielt, ist nicht immer klar. Roy Karadag vom Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen antwortet auf die drängendsten Fragen.

Die Türkei kommt nicht aus den Negativ-Schlagzeilen heraus. Mit welchen großen Baustellen hat das Land aktuell zu kämpfen?

Roy Karadag: Die zunehmende Gewalt auf den Straßen ist nicht zu unterschätzen. Auch dass die Türkei mit zwei Millionen Syrern die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat, darf nicht unterbewertet werden. Die zentrale politische Diskussion sind derzeit aber natürlich die Koalitionsverhandlungen zwischen der Regierungspartei AKP und der Republikanischen Volkspartei CHP. Dass sie sich schwierig gestalten und lange dauern, ist nicht wirklich das Problem. Problematisch ist eher, dass Erdogan mächtiger wird, je länger kein Ergebnis zustande kommt. Er ist quasi gezwungen, Politik zu machen und umzusetzen, weil es ja sonst momentan keiner tun kann. Das ist natürlich in Erdogans Interesse. So kann er demonstrieren, dass es ohne ihn nicht geht. Wer Politik machen will, muss auf ihn Rücksicht nehmen und ihn einbinden.

Die Koalitionsverhandlungen zwischen der AKP und der CHP gelten seit kurzem als gescheitert. Wer käme als Ersatz in Frage?

Die AKP nähert sich jetzt der Nationalistischen Bewegungs-Partei MHP an. Und die kann es sich nicht erlauben, die Verhandlungen nicht zu führen. Immerhin muss man heute schon von nationalem Notstand in der Türkei sprechen, weil fast jeden Tag Polizisten und Soldaten sterben. Man wird sich also auf beiden Seiten strategisch klug positionieren. Aber die Aussichten, dass es zu irgendeiner Koalition kommt, sind nicht gut. Das ist das Dilemma.

In welchen Bereichen drohen die meisten Konflikte und inwiefern ist Erdogan da involviert?

Die AKP wird versuchen, ihrem Koalitionspartner die Zustimmung für eine neue Verfassung abzuringen. Wenn das nicht klappen sollte, dann wird Erdogan das Ganze scheitern lassen. Im Hinblick auf den aktuell diskutierten Patriot-Einsatz lässt man sich in der Türkei nicht zu sehr beeindrucken. Zwar signalisieren die Nato-Mitglieder ihre Unzufriedenheit darüber, dass die Türkei in Syrien ihre eigene Agenda verfolgt. Für die Anti-PKK-Operationen besteht aber immer noch die formelle Unterstützung der USA, als Gegenleistung dafür, dass die USA von der türkischen Militärbasis Incirlik aus Angriffe auf den Islamischen Staat fliegen kann. Auch hier hat Erdogan das letzte Wort: Ohne ihn können in der AKP keine autonomen, sicherheitspolitischen Entscheidungen getroffen werden.

Könnte Erdogan die Demokratie in der Türkei aushebeln? Immerhin, so scheint es, kommt sein Wort einem gesetzesähnlichen Rang nahe.

Zum ersten Mal wurde der Staatspräsident, also Erdogan, per Volksabstimmung gewählt. Das verleiht ihm eine demokratische Legitimität, die er gerade ausspielt und die ihn dazu verleitet, das parlamentarische System hin zu einem präsidentiellen, aber nicht zu einem autoritären System zu ändern. Man muss aber wissen: In der Türkei ist der Ethnonationalismus ohnehin sehr stark verankert. Erst in den letzten Jahren kamen liberalere, auch pro-kurdische Tendenzen auf. An diese neue Realität hat sich die Oppositionspartei CHP eher angepasst als die natioalistischere MHP. Aber niemand wird sich etwa im Kampf gegen die PKK Erdogan in den Weg stellen.

Worauf müssen sich die Menschen in der Türkei nun einstellen?

Erdogan versucht, die momentanen Unruhen zu nutzen und auf Neuwahlen hinzuarbeiten, um die pro-kurdische Demokratie-Partei der Völker HDP aus dem Parlament zu bekommen. Indem er die liberale, grüne und sozialistische Bewegung kurdischer aussehen lassen wird, als sie tatsächlich ist. Aber es ist nicht abzusehen, was bis zu möglichen Wahlen in ein paar Monaten noch passieren kann angesichts der militärischen Eskalation zwischen der Kurden-Partei PKK und dem Staat. Andererseits weiß auch Erdogan, dass selbst die kurdische Bevölkerung mehr an Ruhe und Sicherheit interessiert ist, als ihre eigenen Interessen um jeden Preis durchzusetzen. Außerdem darf man nicht vergessen, dass Erdogan viel getan hat, um das Land zu liberalisieren und auch pro-kurdischen Parteien den Zugang zum politischen System zu ebnen. Gleichzeitig gab es einen intensiven Kampf gegen kritische Intellektuelle. Erdogan hat also ein sehr eigenwilliges Verständnis von Demokratie.

Der Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş hat Erdogan unlängst wegen Verleumdung auf umgerechnet 25.000 US-Dollar verklagt. Hat er sich nicht den falschen Gegner gesucht? Immerhin gilt Demirtaş als türkischer Obama.

Es gab außer Erdogan eigentlich keine anderen charismatischen Figuren. Und gab es doch einen möglichen Gegenspieler, hat die AKP alles getan, um dessen Aufstieg zu verhindern. Für die HDP spielt Demirtaş aber keine so große Rolle. Die Partei ist aus einer Bewegung heraus in den Großstädten entstanden und hat eine sehr gut aufgestellte, moderate Basis nach den Gezi-Protesten erreicht. Dieser Umstand ist viel gefährlicher für Erdogan. Dass Demirtaş als neuer Hoffnungsträger gesehen wird, ist für ihn zumindest eine tiefe Kränkung.

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