• Der Tod von Sarah Everard schlägt in Großbritannien weiterhin hohe Wellen.
  • Ein Polizist soll sie entführt und ermordet haben.
  • Dies bringt inzwischen sogar für Premierminister Boris Johnson in eine verzwickte Situation.

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Für den britischen Premierminister Boris Johnson wird der Fall der getöteten Sarah Everard zu einer Gratwanderung. Nach der teils gewaltsamen Auflösung einer Mahnwache Hunderter Frauen und angesichts eindrucksvoller Protestbilder vor dem Parlament hat der Regierungschef Verständnis für die Wut der Demonstrantinnen gezeigt. Zugleich darf Johnson aber aus Rücksicht um seine konservativen Parteifreunde die von der Corona-Pandemie ohnehin schwer belastete Polizei nicht bloßstellen.

Der Premier wollte sich noch am Montag mit einer Taskforce zu Beratungen treffen. Ziel sei, Schritte zum Schutz von Frauen und Mädchen zu erörtern und sicherzustellen, "dass unsere Straßen sicher sind", teilte die Regierung mit. "Der Tod von Sarah Everard muss uns in dem Entschluss vereinen, Gewalt gegen Frauen und Mädchen auszutreiben und jeden Teil des Justizsystems dafür einzusetzen, sie zu schützen und zu verteidigen", sagte Johnson.

Frau durch einen Polizisten entführt und getötet?

Der Fall hält das Land seit Tagen in Atem: Sarah Everard war am Abend des 3. März in Südlondon spurlos verschwunden, als sie von einer Freundin nach Hause ging. Vermutet wird, dass ein Polizist auf dem Rückweg von seiner Schicht sie von der Straße entführte und tötete. Mittlerweile wurde ihre Leiche in einem Waldstück in der südostenglischen Grafschaft Kent gefunden, der Verdächtige sitzt in Untersuchungshaft.

Seitdem tobt eine Debatte über Gewalt gegen Frauen. In sozialen Netzwerken haben Tausende über ihre Ängste auf dem abendlichen Nachhauseweg berichtet. Am Samstag legten Tausende - auch Herzogin Kate - Blumen im Südlondoner Park Clapham Common nieder, wo die 33-Jährige zuletzt gesehen worden war. Doch am Abend eskalierte die Situation: Weil Abstandsregeln missachtet wurden, schritt die Polizei teils rüde ein, Bilder von zu Boden gedrückten Frauen in Handschellen machten die Runde. "Wie jeder, der sie gesehen hat, war ich von den Bildern vom Clapham Common tief betroffen", sagte Premier Johnson.

Rückendeckung für Polizeichefin

Für die Polizei sind es fatale Aufnahmen, zumal der mutmaßliche Mörder ein Kollege ist: Frauen, die für Schutz vor Männern demonstrieren, werden von männlichen Polizisten weggezerrt und zu Boden gestoßen. Die Entrüstung über den harten Einsatz ist groß. Zu verantworten hat das Vorgehen die Londoner Polizeichefin Cressida Dick. Doch von der Regierung erhält sie Rückendeckung. Die Polizeichefin habe eine Prüfung des Einsatzes zugesagt, sagte Johnson. Auch das Innenministerium hat eine Überprüfung angeordnet.

Letztlich sitzt die Polizei zwischen allen Stühlen. "Während dieser Pandemie haben wir sie gebeten, einen Job zu machen, den sie noch nie zuvor gemacht haben", nahm der zuständige Staatssekretär Kit Malthouse die Beamten in Schutz. Und Dania Al-Obeid, eine der festgenommenen Frauen, sagte dem Sender BBC Radio 4: "Sie haben nur Befehle befolgt."

Mehr Befugnisse für die Polizei

Die Regeln sind in der Tat klar: Wegen der Pandemie sind Massenveranstaltungen in England verboten, und die Polizei muss dieses Verbot durchsetzen. Die Corona-Vorschriften machten es schwieriger, Entscheidungen zu treffen, sagte Martin Hewitt, der Chef der Vereinigung von Polizeichefs, der BBC. "Man muss Rechte, gesetzliche Vorschriften, Gesundheit und Sicherheit gegeneinander abwägen." Hewitt forderte, Einsatzleiter brauchten klare Vorgaben.

Erschwerend hinzu kommt ein Streit um ein neues Polizeigesetz. Der Entwurf, der am Montag im Parlament diskutiert wurde, würde die Befugnisse der Polizei enorm erweitern. "Das würde die derzeitige Situation, in der die Covid-Vorschriften der Polizei zu viel Macht über unsere Rechte auf freie Meinungsäußerung verliehen haben, effektiv auf eine dauerhafte Grundlage stellen", betonte der Anwalt Adam Wagner. Angesichts der Bilder aus Clapham Common hat die größte Oppositionspartei Labour angekündigt, gegen das Gesetz zu stimmen. Ein gefundenes Fressen für die regierenden Konservativen, die dem politischen Gegner nun vorwerfen, er lehne die im Gesetz enthaltenen schärferen Strafen für Terroristen und Schwerkriminelle ab.

Demonstration wegen neuem Gesetz

Hunderte demonstrierten am Montagabend in London gegen das geplante Gesetz und Gewalt an Frauen. Zeitweise blockierten die Demonstranten die Westminster Bridge nahe des Parlaments. Innenminister Priti Patel verteidigte das Gesetzesvorhaben am Montag. "Wir haben in den vergangenen Jahren erhebliche Veränderungen in Protest-Taktiken gesehen, wobei Demonstranten Schlupflöcher im Gesetz ausgenutzt haben, die zu einem unverhältnismäßigen Maß an Behinderungen geführt haben", so die konservative Politikerin.

Doch Beobachter warnen, das wahre Problem drohe vergessen zu werden. "Es muss sich wieder um die Frauen drehen", sagte Vera Baird, Opferschutzbeauftragte für England und Wales, der BBC. Der Tod von Sarah Everard sei nur die Spitze des Eisbergs. Frauen betrachteten Straßen als gesetzlose Orte. Viele Betroffene hätten den Eindruck, dass ihnen nicht geholfen werde. "Es ist unbedingt notwendig, dass die Regierung dringend und nachhaltig Maßnahmen ergreift, um das Vertrauen in die Polizei und die Strafjustiz wiederherzustellen - und in die Hälfte der Bevölkerung", sagte Baird.

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