• Der umstrittene Politiker wurde am Sonntagabend mit absoluter Mehrheit in seinem Amt bestätigt.
  • Gegen Palmer lief seit 2021 ein Parteiausschluss-Verfahren.
  • Er lässt derzeit seine Parteimitgliedschaft bei den Grünen ruhen. Bei der Wahl trat der 50-Jährige als unabhängiger Kandidat an.
Ein Porträt
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lukas Weyell sowie ggf. von Expertinnen oder Experten. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Gegen 19:30 Uhr ging am Sonntagabend die Eilmeldung über die Ticker: Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer wird in seinem Amt bestätigt. Mit 52,4 Prozent hatte der 50-Jährige zum dritten Mal die absolute Mehrheit der Stimmen geholt. Nun wäre so eine Meldung, eine Wiederwahl des Amtsinhabers in einer südwestdeutschen Kleinstadt mit rund 90.000 Einwohnern, normalerweise etwas für den SWR und die Lokalpresse. Stattdessen schickten große bundesweit publizierende Medienhäuser wie "Die Zeit" und "Der Spiegel" Push-Nachrichten raus, die Tagesschau brachte die Meldung groß unter den Top-Nachrichten auf ihrer Startseite.

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Das hat weniger mit Palmers tatsächlichem politischen Einfluss als Oberbürgermeister zu tun, als vielmehr mit seiner Prominenz. Längst hat sich der streitbare Politiker einen Namen als gern gesehener Interview- und Talkshow-Partner gemacht. Flüchtlingskrise, Corona, AKW-Ausstieg: Kaum eine politische Debatte, bei der er fehlt. Die Provokation hat System. Denn der studierte Mathematiker Boris Palmer geht dabei stets berechenbar vor.

Die Palmer-Formel lautet: Nehme eine weitläufig akzeptierte Meinung der Mehrheit innerhalb der Grünen-Partei, suche den größtmöglichen Gegensatz, der noch von einer vermuteten Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird und vertrete diese Meinung entweder gegenüber der "Bild"-Zeitung oder in einem der vielen Talkshow-Formate. Ergänzt wird das Ganze durch diverse Buchveröffentlichungen, in denen Palmer seine strittigen Thesen erläutert.

Parteiausschluss-Verfahren

Das sorgte für maximale Aufmerksamkeit und ging einige Zeit lang gut. Im vergangenen Jahr wurde es den Grünen dann doch zu bunt. Der Anlass war einigermaßen kurios, Palmer hatte ironisch das N-Wort bezüglich des ehemaligen deutschen Nationalspielers Dennis Aogo in einem Facebook-Post benutzt. Die Debatte verselbstständigte sich, bis keiner mehr wirklich verstand, worum es eigentlich ging. Entscheidend aber: Palmer weigerte sich, sich für die Verwendung des N-Worts zu entschuldigen.

Der Vorwurf: Rassismus. Am 8. Mai sah sich die Co-Parteichefin Annalena Baerbock genötigt, ein Machtwort zu sprechen und regte einen Parteiausschluss an. Der Baden-Württembergische Landesverband kam dem nach und im April 2022 reichte das Schiedsgericht einen Kompromissvorschlag ein, dem Palmer zustimmte. Der Tübinger OB lässt seither seine Mitgliedschaft bis 2023 ruhen, bei der aktuellen Wahl ging er als unabhängiger Kandidat ins Rennen, die Grünen schickten eine eigene Kandidatin.

Auf das Image des Enfant Terrible scheint Palmer stolz zu sein. Auch sein Vater Helmut Palmer trat als parteiloser Kandidat zu zahlreichen Oberbürgermeister-Wahlen im Ländle an und erlangte als "Remstal-Rebell" lokale Berühmtheit. Der Apfel des Pomologen (Obstbaukundler) scheint nicht weit vom Stamm zu fallen.

Auch Palmer Junior provoziert gerne: Nach seinem Wahlsieg im SWR darauf angesprochen, ob er seinen politischen Stil in der neuen Amtszeit ändern werde, entgegnete er, der Moderator solle sich lieber Gedanken machen, ob er den Stil seiner Fragen ändern wolle. Er selbst sehe als dreimaliger Wahlsieger mit absoluter Mehrheit keinen Grund, etwas zu ändern. Das kann selbstbewusst wirken, kommt aber nicht immer gut an.

Fallender oder aufsteigender Stern der Grünen?

Seine unbequeme Haltung versperrte Boris Palmer schon so manchen Karriereweg. Einst als junger Hoffnungsträger gestartet, wurde er schon als Nachfolger des Baden-Württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann gehandelt. Doch seine kompromisslose Art und kontroversen Thesen machten ihn bei seiner Partei schwer vermittelbar. Spätestens seit seinen öffentlichen Äußerungen im Zuge der Flüchtlingskrise 2015/2016 war "Palmer" zum Reizwort bei den Grünen geworden.

Nach dem jüngsten Parteiausschluss-Verfahren sind seine Chancen auf höhere Partei- oder Regierungsämter nun gänzlich Richtung null gesunken. Was alles aus ihm hätte werden können, zeigt seine ehemalige Partnerin Franziska Brantner, mit der er zusammen eine gemeinsame Tochter hat. Brantner schaffte es über das Europäische Parlament in den Bundestag und ist seit Neuestem Staatssekretärin in Robert Habecks Wirtschaftsministerium.

Unter Palmer wurde Tübingen zur Zukunftsstadt

Boris Palmer scheint sich hingegen mit seiner Situation arrangiert zu haben. In Tübingen hat der unbequeme Grüne ein Experimentierfeld für seine Ideen gefunden. Denn: Entgegen dem Image, das er bundesweit pflegt, ist er dort im besten Sinne ein grüner Bürgermeister. Die Stadt wächst und gedeiht ökonomisch wie ökologisch.

Den Gegenwind für Tempo 30 in der Innenstadt hält er aus und experimentiert auf der anderen Seite mit kostenlosem Nahverkehr. Er setzt sich für bezahlbaren Wohnraum ein und sorgt für günstige Bedingungen für wachsendes Gewerbe im medizinisch-technologischen Bereich. Seine Bilanz kann sich sehen lassen: Unter Boris Palmer wurde Tübingen zur Zukunftsstadt. Dafür wurde er jetzt zum dritten Mal wiedergewählt.

Verwendete Quellen:

  • deutschlandfunk.de: Oberbürgermeister Palmer geht nach Wahlsieg auf Grüne zu
  • swr.de: OB-Wahl in Tübingen: Klarer Sieg für Palmer
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