Elf Menschenrechtsaktivisten stehen ab heute in der Türkei vor Gericht. Neben dem deutschen Fotograf Peter Steudtner sind auch Direktorin der türkischen Sektion von Amnesty International, Idil Eser, und deren Vorstandsmitglied Taner Kiliıç darunter. Der türkische Staat wirft ihnen vor, Terroristen zu unterstützen - worauf bis zu 15 Jahre Haft stehen. Marie Lucas von Amnesty International über ein Verfahren, das sie "absurd" und "politisch motiviert" nennt.
Frau Lucas, für eine Anklage braucht es Beweise. Es heißt, die Aktivisten und Referenten hätten sich durch ihre Teilnahme an einer Fortbildung für Menschenrechtler der Unterstützung terroristischer Vereinigungen schuldig gemacht. Worauf stützt die Türkei ihre Vorwürfe?
Marie Lucas: Die Anklage ist durch keinerlei glaubwürdige Belege untermauert. Um zu zeigen, wie absurd dieses Verfahren ist, hat Amnesty International die Anklage veröffentlicht. Diese Menschen haben kein Geheimtreffen abgehalten und keine Umsturzpläne geschmiedet, wie ihnen vorgeworfen wird.
Sie haben an einer ganz normalen Fortbildung teilgenommen, wie sie überall auf der Welt für Menschenrechtsaktivisten angeboten wird. Da ging es zum Beispiel darum, wie man mit den persönlichen Daten von Hilfesuchenden umgeht oder mit dem Stress, den solche Arbeit auch bedeutet.
Die Veranstaltung fand in einem Hotel statt, in einem gläsernen Raum, bei offener Tür und mit Dolmetschern, die keiner der Beteiligten kannte. Ein konspiratives Geheimtreffen würde man vermutlich anders organisieren.
Und welche vermeintlichen Beweise führt die türkische Justiz an?
Um ein Beispiel zu nennen: Nach den Protesten im Gezi-Park 2013 und dem gewaltsamen Polizeieinsatz hat sich Amnesty dafür eingesetzt, dass Südkorea kein Tränengas mehr an die Türkei liefern soll. Es bestand die Gefahr, dass das Tränengas für Menschenrechtsverletzungen eingesetzt wird.
Gegenüber Idil Eser wird dies nun als Beweis dafür gewertet, dass sie die PKK unterstützt. Dabei war sie 2013 noch nicht einmal bei Amnesty International angestellt.
Um welche von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen geht es neben der kurdischen Untergrundorganisation PKK noch?
Die Angeklagten sollen Unterstützer der PKK, der Gülen-Bewegung und einer marxistisch-leninistischen, bewaffneten Organisation sein.
Das sind drei Organisationen, die ideologisch so weit von einander entfernt sind, dass es sehr viel Fantasie bedarf, sich vorzustellen, dass ein Mensch alle gleichzeitig unterstützen kann.
Wie kommen die Inhaftierten mit ihrer Situation klar?
Das ist natürlich alles schwer zu ertragen, zumal mit der Aussicht auf bis zu 15 Jahre Haft. Aber nach allem, was wir über ihre Anwälte erfahren haben, geht es den Betroffenen den Umständen entsprechend gut. Sie sind stark und hoffnungsvoll, das ist bewundernswert.
Haben Sie Hoffnung auf ein faires Verfahren?
Ich kann nicht vorhersagen, was die türkische Justiz aus diesem Fall macht. Viel wird davon abhängen, welches Signal sie von der türkischen Regierung bekommt. Das wiederum wird vom Verhalten der internationalen Staatengemeinschaft abhängen.
Was erhoffen Sie sich?
Es braucht internationalen Druck, deutliche Worte. Die öffentliche Aufmerksamkeit darf nicht abreißen, auch wenn sich die Verhandlungen hinziehen werden.
Die Bundesregierung hat zuletzt wiederholt Rechtsstaatlichkeit angemahnt. Weißt sie Recep Tayyip Erdogan aus Ihrer Sicht deutlich genug in die Schranken?
Es ist wichtig, dass die Kritik der Bundesregierung an der Menschenrechtssituation in der Türkei zuletzt deutlicher geworden ist. Vor eineinhalb Jahren, als die EU gerade den Flüchtlingsdeal mit der Türkei geschlossen hatte, hielt sich die Bundesregierung mit Kritik noch sehr zurück, was wir auch scharf kritisiert haben.
Kann Amnesty International unter den gegebenen Umständen überhaupt noch in der Türkei arbeiten?
Einen vergleichbaren Fall hat es in der Geschichte der Organisation noch nicht gegeben. Das bedeutet für uns eine massive Verschärfung der Lage. Gleichzeitig werden wir nicht aufhören, zur Türkei und in der Türkei zu arbeiten.
Diese Fortbildung war keine heikle Sache, sondern eine gewöhnliche Veranstaltung für Mitglieder verschiedener Menschenrechtsorganisationen. So etwas muss möglich sein.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.