1 27
Obwohl Recep Tayyip Erdoğan heute als Präsident an der Spitze der Türkei steht, begann sein Leben in bescheidenen Verhältnissen. Geboren 1954 im armen Istanbuler Hafenviertel Kasimpasa, wächst er in einer religiösen Familie unter der strengen Hand seines Vaters, eines Seemanns, auf. Schon als Kind muss er Geld verdienen, indem er Sesamkringel und Wasser auf der Straße verkauft.
2 27
In der Schule fällt der junge Erdoğan durch seine Begeisterung für den Koran auf. In dieser Zeit wird auch sein Talent als Redner erkannt, das später den Grundstein für seine politische Karriere legt. Der Durchbruch gelingt ihm 1994, als er zum Bürgermeister von Istanbul gewählt wird.
3 27
2001 gründet Erdoğan die Partei "Adalet ve Kalkınma Partisi" (AKP) - die "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" -, die 2002 einen überwältigenden Wahlsieg erringt. Unter Erdoğans Führung erlebt die Türkei zunächst einen Wirtschaftsboom. Er setzt sich für verschiedene Reformen ein, fördert die Rechte der Frauen, stellt sich gegen das Militär und engagiert sich für religiöse und ethnische Minderheiten. Die EU sieht in ihm einen großen Hoffnungsträger und nimmt gleich zu Beginn seiner Amtszeit Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf.
4 27
Sein Annäherungsprozess an die EU gerät jedoch ins Stocken. Erdogan regiert zunehmend autoritär - mehrere Mitgliedstaaten äußern sich besorgt über die Lage der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei, darunter auch der ehemalige britische Premierminister Tony Blair (r.).
Anzeige
5 27
Am 28. August 2014 wird Erdoğan erstmals direkt zum Präsidenten der Türkei gewählt. Sein neues Amt markiert den Beginn eines immer autoritäreren Kurses.
6 27
In seiner Siegesrede verspricht er zwar versöhnlich die nationale Einheit: "Lasst uns heute gemeinsam einen gesellschaftlichen Versöhnungsprozess beginnen. Lassen wir die alten Streitigkeiten der alten Türkei hinter uns." Doch kurz darauf folgt die Kehrtwende. Enthüllungen über massive Korruption in Erdogans Umfeld belasten auch die deutsch-türkischen Beziehungen.
7 27
Dennoch arbeiten die Türkei und Deutschland zusammen, nachdem 2015 vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs in Syrien hunderttausende Flüchtlinge nach Europa kommen. Im März 2016 schließen die Türkei und die EU ein Flüchtlingsabkommen, der den großen Flüchtlingsandrang in den Griff bekommen soll. Diese Zusammenarbeit wird von vielen Seiten scharf kritisiert. So bezeichnete Amnesty International das Abkommen als "menschenrechtswidrig".
8 27
Im März 2016 verspottet die Satiresendung "extra 3" den türkischen Staatspräsidenten mit der Parodie "Erdowie, Erdowo, Erdogan". Dieser zeigt sich verärgert und bestellt den deutschen Botschafter ein.
Anzeige
9 27
Ende März reagiert der Satiriker Jan Böhmermann auf die Ereignisse. In seiner Sendung "Neo Magazin Royale" trägt er unter Bezug auf das satirische Lied ein Gedicht vor. Es trägt den Namen "Schmähkritik". Böhmermann wendet sich darin mit derben Worten an den türkischen Staatspräsidenten, die zum Teil massiv unter die Gürtellinie gehen und einen Skandal auslösen.
10 27
Böhmermanns Gedicht führt zu einer diplomatischen Krise. Erdoğan zeigt sich beleidigt, die Affäre löst eine Debatte über Meinungsfreiheit in Deutschland aus.
11 27
Im Juni 2016 verabschiedet der Deutsche Bundestag die Armenien-Resolution. Darin wird der Mord an 1,5 Millionen Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs als Völkermord eingestuft. Dieser Beschluss führt zu einer scharfen Reaktion Erdoğans, der mit "ernsten Folgen" droht.
12 27
Die Situation spitzt sich zu, als Erdogan deutsche Parlamentarier angreift, türkischstämmige Abgeordnete als PKK-Sympathisanten bezeichnet und einen "Bluttest" für türkischstämmige Politiker vorschlägt. Zudem verweigert die Türkei deutschen Abgeordneten den Besuch der Bundeswehr auf dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik.
Anzeige
13 27
In der Nacht vom 15. auf den 16. Juni 2016 starten Teile des türkischen Militärs aus Unzufriedenheit mit dem autoritären Kurs Erdoğans einen Putschversuch gegen den türkischen Präsidenten, der scheitert und mehr als 200 Menschen das Leben kostet. Erdogan verhängt den Ausnahmezustand und beginnt eine große Verhaftungswelle. Die Bundesregierung verurteilt den Putschversuch, kritisiert aber auch die anschließenden Massenverhaftungen.
14 27
Im selben Monat stellt die deutsche Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen Jan Böhmermann ein. Erdogan geht in Berufung, diese wird aber abgewiesen. Allerdings wird Böhmermann untersagt, bestimmte Passagen des Gedichts zu wiederholen.
15 27
Im März eskalieren die Spannungen zwischen der Türkei und Deutschland weiter, als Erdoğan schwere Vorwürfe gegen Angela Merkel erhebt und ihr vorwirft, "Terroristen" zu unterstützen und nicht ausreichend gegen die PKK vorzugehen. Die Situation spitzt sich zu, als türkische Medien Merkel mit Nazi-Vergleichen beleidigen und die deutsche Politik als "faschistisch" bezeichnen.
16 27
"Diese Vergleiche der Bundesrepublik Deutschland mit dem Nationalsozialismus müssen aufhören", fordert daraufhin Angela Merkel. Sie seien den engen Verflechtungen und Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei politisch, gesellschaftlich, als Nato-Partner und wirtschaftlich nicht würdig.
Anzeige
17 27
Im Februar 2017 wird der deutsche Journalist Deniz Yücel in der Türkei wegen angeblicher "Terrorpropaganda" verhaftet. Trotz intensiver diplomatischer Bemühungen der Bundesregierung bleibt er zunächst ohne Anklageschrift in einem Hochsicherheitsgefängnis inhaftiert, was zu einem großen Aufschrei in Deutschland führt. Neben zahlreich stattfindenden Protestaktionen und Solidaritätsbekundungen verurteilt auch Bundeskanzlerin Angela Merkel die Verhaftung scharf und fordert wiederholt die Freilassung Yücels.
18 27
Ein nach dem Putschversuch im Dezember angekündigtes Verfassungsreferendum geht im April 2017 zugunsten Erdogans aus. Die Abstimmung ermöglicht die Einführung eines Präsidialsystems, das die Macht des türkischen Staatschefs weiter stärkt.
19 27
Ende April 2017 wird die Journalistin Mesale Tolu aus Ulm in der Türkei verhaftet. Der Fall wird erst im Mai publik. Wie Deniz Yücel wird ihr "Terrorpropaganda" vorgeworfen.
20 27
In einem Sondierungspapier vom Januar 2018 legen Union und SPD nun einen harten Kurs gegenüber Ankara fest. Sie prangern Defizite bei Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten an und stellen einen möglichen EU-Beitritt infrage. Die Türkei kritisiert das Papier und strebt weiterhin eine Vollmitgliedschaft in der EU an. Im Laufe des Jahres kommen die Beitrittsgespräche aber zum Erliegen - sie liegen bis heute auf Eis.
Anzeige
21 27
Im Februar 2018 kommt Deniz Yücel nach mehr als einem Jahr in Haft frei. Die Freilassung wird als positives Signal für die Beziehungen mit der Türkei bewertet. Im August 2018 wird auch die Ausreisesperre von Mesale Tolu, die zuvor ebenfalls aus dem Gefängnis entlassen worden war, aufgehoben. Beide kehren zurück nach Deutschland.
22 27
Ende September 2018 kommt Erdoğan zu einem Staatsbesuch nach Deutschland. Das Treffen soll zur Entspannung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern beitragen.
23 27
Der Besuch stellt sich als wichtiger Schritt heraus, der den Dialog in Bezug auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Flüchtlingskrise tatsächlich verbessert. Dennoch bleiben kritische Themen wie Menschenrechtsfragen und die Situation von Journalisten in der Türkei ungelöst.
24 27
Im selben Jahr ernennt Erdogan seinen Schwiegersohn Berat Albayrak zum Finanzminister, was weitreichende negative Folgen hat: Die türkische Lira stürzt ab, die Zentralbankreserven schwinden, Investoren ziehen sich zurück. Viele junge Menschen verlassen die Türkei, während das Präsidialsystem zunehmend als Misserfolg betrachtet wird.
Anzeige
25 27
Erdoğan gewinnt zwar die Präsidentschaftswahlen 2023, erleidet aber bei den anschließenden Kommunalwahlen einen herben Rückschlag. Seine Strategie, ohne Wahlgeschenke gewinnen zu wollen, scheitert und Proteste zwingen ihn, einige seiner Entscheidungen zurückzunehmen. Erdoğan wirkt gesundheitlich angeschlagen und erschöpft von vielen Jahren an der Landesspitze.
26 27
Das scheint ihn zu einem Entschluss gedrängt zu haben. "Mit der Autorität, die mir das Gesetz verleiht, werden diese Wahlen meine letzten sein", sagt Erdoğan, der die Türkei seit 20 Jahren regiert - zunächst als Ministerpräsident und seit 2014 als Präsident. Seine Amtszeit endet damit 2028.
27 27
Der türkische Journalist Ragip Soylu kommentierte die Ankündigung des Präsidenten auf der Plattform X: "Ich habe das Gefühl, dass Erdogan mit dieser Aussage Emotionen weckt, um mehr Städte im Rennen um das Bürgermeisteramt zu erobern, aber 2028 ist eine wirklich ferne Zukunft. Bis dahin könnte er seine Meinung noch ein paar Mal ändern oder versuchen, die Verfassung zu ändern".