- Afghanistan liegt am Boden. Millionen Menschen hungern und frieren, Kinder verhungern.
- Christian Schneider, Chef von UNICEF Deutschland, war vor Ort und spricht im Interview am Tag nach seiner Rückkehr von der Reise.
- Hier lesen Sie, wie UNICEF trotz der Herrschaft der radikalislamischen Taliban Hilfe leistet, welche Begegnungen Schneider erschüttert haben und was ihm Hoffnung gibt.
Herr Schneider, Sie waren vor wenigen Tagen in Afghanistan. Wenn Sie nur ein Erlebnis beschreiben könnten, um die Not der Menschen greifbar zu machen, welches wäre das?
Christian Schneider: In Kabul habe ich immer wieder Mütter gesehen, die mit kleinen Kindern, teilweise mit Säuglingen, mitten auf der Straße gebettelt haben - wirklich mitten auf der Straße, zwischen den Autos und Lastwagen, so verzweifelt sind sie. Das hat mich sehr berührt, war aber bei weitem nicht das einzige erschütternde Erlebnis.
Woran denken Sie noch?
In einem Krankenhaus in Zurmat habe ich eine Station für schwer mangelernährte Kinder besucht. Dort habe ich Basmeena kennengelernt. Sie ist fünf Jahre alt und viel zu klein und leicht für ihr Alter. Im Lauf des Gesprächs hat sie zwar auch mal gelächelt, aber überwiegend saß sie lethargisch auf dem Schoß ihrer Schwester, weil sie so schwach war. Ihre Schwester hatte sie in die Klinik gebracht - und das nicht zum ersten Mal. Sie wurde dort bereits mehrmals aufgepäppelt, aber wenn es dann zu Hause wieder nur Brot, Tee und vielleicht mal ein bisschen Reis gibt, ist das ein Teufelskreis. Unser Team geht davon aus, dass mehr als eine Million Kinder im Land schwer mangelernährt sind - eine unglaubliche Zahl.
Laut UNICEF sind 24 Millionen Afghaninnen und Afghanen auf humanitäre Hilfe angewiesen, darunter 13 Millionen Kinder. Was brauchen sie am dringendsten?
Das größte Problem ist die Kombination aus Hunger, Armut und Kälte. Auf der Reise hatten wir in der Nacht bis zu minus 15 Grad. Den Familien fehlen Heizmaterialien, Decken und Winterkleidung. Die Mütter, mit denen ich gesprochen habe, haben auf die Frage, was sie zuletzt gegessen haben, oft nur mit ausweichenden Blicken geantwortet. Sie stehen vor der Entscheidung, ob sie von ihrem letzten Geld Feuerholz oder ein bisschen Brot kaufen, und verzichten häufig zugunsten ihrer Kinder auf Nahrung. Bei Schwangeren und Stillenden hat das wiederum zur Folge, dass Kinder unterernährt geboren werden und nicht genug Muttermilch bekommen. Die Ärzte einer Kinderstation in Kabul haben erzählt, dass im letzten Monat 30 Neugeborene gestorben sind, weil sie zu schwach waren.
Wer nicht weiß, wie die Familie satt werden soll, kümmert sich wohl kaum um die Bildung seiner Kinder, oder?
Ich freue mich, dass Sie das ansprechen, denn tatsächlich ist das Thema Bildung ein Hoffnungsschimmer. Alle Eltern, die ich getroffen habe, legen großen Wert darauf, dass ihre Söhne und Töchter zur Schule gehen. Viele staatliche Schulen sind derzeit geschlossen, sei es wegen der Pandemie oder weil sie im Winter nicht beheizt werden können. Aber informelle Bildungsangebote von Nichtregierungsorganisationen, wie sie auch UNICEF unterstützt, ermöglichen es immerhin einigen 100.000 Kindern unter zwölf Jahren, zur Schule zu gehen. Zu sehen, wie die Mädchen und Jungen inmitten dieser Not mit Eifer lernen, war einer der hoffnungsvollsten Momente der Reise. Das Ziel ist jetzt, dass auch ältere Mädchen und Jungen bald wieder im ganzen Land Unterricht bekommen.
Lassen die machthabenden Taliban es denn ohne weiteres zu, dass Sie Mädchenbildung unterstützen?
UNICEF ist seit 70 Jahren in Afghanistan vor Ort, wir haben gute Kontakte und auch schon vor dem Machtwechsel in Gebieten gearbeitet, die von den Taliban besetzt waren. Ich kann sagen, dass die Tür offensteht, die Hilfe auszuweiten.
Sie haben also keine Skrupel, sich mit den Taliban zu arrangieren?
Ich plädiere dafür, politisch-diplomatische Fragen von humanitären zu trennen. Natürlich müssen wir darauf beharren, dass die Menschenrechte eingehalten werden. Aber wir sprechen hier von einer humanitären Katastrophe. Kinder sind am Verhungern, die können nicht warten - ihr Leben steht auf dem Spiel. Ihnen beizustehen, bedeutet keine Belohnung für die de-facto-Machthaber.
Wer diktiert die Regeln – UNICEF oder die Taliban?
Wir pochen in den Gesprächen mit den Machthabern durchaus auf unsere Prinzipien, etwa darauf, dass auch Mädchen zur Schule gehen und Lehrerinnen als solche arbeiten dürfen. Viele afghanische UNICEF-Mitarbeiterinnen mussten sich nach dem Machtwechsel erst einmal zurückziehen, die Unsicherheit war groß. Dass sie jetzt wieder arbeiten, werte ich als gutes Zeichen.
In den vergangenen Monaten ist oft der Eindruck entstanden, NGOs könnten in Afghanistan gar nicht mehr arbeiten. Auf UNICEF trifft das also nicht zu?
Nein. Wir unterstützen Kliniken mit Medikamenten und Spezialnahrung für unterernährte Kinder, schicken mobile Gesundheitsteams in die Dörfer, versorgen Schulen mit Lern- und Heizmaterial, verteilen Decken und Winterkleidung und unterstützen besonders bedürftige Familien mit kleinen Bargeldzahlungen. Teilweise konnten wir die Hilfe zuletzt sogar ausweiten. Ich war zum Beispiel in einem Krankenhaus in der Provinz Paktia, die 15 Jahre lang umkämpft war, sodass wir lange lediglich Hilfsmaterial schicken konnten. Jetzt können wir dort wieder arbeiten, die Ärzte und das Gesundheitspersonal bekommen dank internationaler Gelder nach Monaten erstmals wieder ihren Lohn.
Die Sicherheitslage im Land ist fragil. Wie fühlt es sich an, dort zu reisen?
Bei der Ankunft am Flughafen in Kabul hatte ich sofort die verstörenden Bilder aus dem Sommer im Kopf, als Menschen sich verzweifelt an Flugzeuge geklammert haben, um aus dem Land zu kommen. Das lässt einen nicht kalt. Durchs Land zu reisen ist heute sicherer als zu den Zeiten, in denen noch gekämpft wurde. Wir haben Zusagen der de-facto-Machthaber, Hilfe leisten und uns frei bewegen zu dürfen.
Blicken Sie optimistisch oder pessimistisch auf Afghanistan?
Ohne Optimismus kann man eine solche Herausforderung nicht angehen. 13 Millionen Kinder brauchen dringend Hilfe. Um das mal in Relation zu setzen: Das ist, als müssten wir fast alle unter 18-Jährigen in Deutschland versorgen.
Die Vereinten Nationen haben jüngst den größten Spendenaufruf ihrer Geschichte gestartet: Über sieben Milliarden Euro sind demnach 2022 nötig, um die Afghaninnen und Afghanen im Land und die Geflüchteten in den Nachbarländern zu versorgen.
Ja, die Zukunft der Menschen hängt davon ab, ob Staaten und private Spenderinnen und Spender die Arbeit der humanitären Organisationen weiter unterstützen. Das ist meine zentrale Botschaft. Es wäre fatal, der notleidenden Bevölkerung jetzt den Rücken zuzukehren.
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