Vollbeschäftigung in Deutschland - das gab es zuletzt in den 1960er-Jahren, nachdem wegen des Mangels an einheimischen Arbeitskräften massenhaft "Gastarbeiter" angeworben wurden. Die Union macht nun ein massives Wahlversprechen: Bis 2025 soll es wieder so weit sein. Ist das realistisch?

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Derzeit sind hierzulande 2,5 Millionen Menschen auf Arbeitssuche, die Statistik des Bundesamtes für Arbeit weist für Juni 2017 eine Arbeitslosen-Quote von 5,5 Prozent aus.

Wenn die Union weiterregiert, so verspricht sie in ihrem Programm für die Bundestagswahl im September, soll es spätestens im Jahr 2025 nur noch halb so viele Arbeitslose geben und die Quote auf unter drei Prozent sinken.

"Das ist schon ein sportliches Ziel", meint Holger Schäfer, Arbeitsmarkt-Experte am Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln.

Was bedeutet Vollbeschäftigung?

Um das Wahlversprechen der Union richtig einordnen zu können, muss man wissen, was man überhaupt unter dem Begriff der "Vollbeschäftigung" versteht.

Für manche Ökonomen beginnt sie schon bei fünf Prozent Arbeitslosigkeit, andere sehen vier Prozent als Grenze.

Die drei Prozent, die sich die Union vorgenommen hat, sind also eine sehr ambitionierte Marke.

Es gebe immer "eine gewisse Such-Arbeitslosigkeit", sagt Experte Schäfer: Nicht jeder, der kündigt oder dem gekündigt wird, hat sofort einen neuen Job. Meistens dauere es drei bis fünf Monate, bis man wieder einsteigen könne; in der Zwischenzeit wird man als arbeitslos registriert. Deshalb sind null Prozent Arbeitslosigkeit in der Praxis nicht zu erreichen.

Ist Vollbeschäftigung überhaupt möglich?

Bis Mitte der 1960er-Jahre wurde in der Bundesrepublik allerdings sogar eine Arbeitslosenquote von unter einem Prozent errechnet. Das lag einerseits am Wiederaufbau-Boom nach dem Zweiten Weltkrieg, andererseits gab es auch zu wenige Arbeitssuchende.

Weil manche Branchen in Deutschland nicht mehr genügend qualifizierte Arbeitskräfte fanden, begannen damals Anwerbeprogramme, mit denen Millionen von sogenannten "Gastarbeitern" ins Land geholt wurden.

Beendet wurde dieser Zustand durch die Krisen der 1970er-Jahre: Sinkendes Wirtschaftswachstum, die sogenannten Ölkrisen und in den Augen mancher Ökonomen auch eine falsche Arbeitsmarktpolitik trieben die Arbeitslosenzahlen wieder nach oben.

In nur einem Jahr kletterte beispielsweise von 1974 bis 1975 die Quote der Menschen ohne Arbeit von 2,6 auf 4,7 Prozent. Mit den aktuellen Zahlen sind diese Quoten übrigens nur bedingt vergleichbar - heute wird nach anderen Kriterien gezählt.

Wie weit sind wir von der Vollbeschäftigung entfernt?

5,5 Prozent Arbeitslose im Juni 2017 - diese Zahl sei schon recht gut, meint Holger Schäfer.

Vor allem die Tatsache, dass sich der Anteil derjenigen "Erwerbspersonen", die älter als 55 sind, seit 2015 verdoppelt habe, sei ein "dramatisch positiver Effekt".

Von dieser guten Basis aus betrachtet, hält Schäfer es für "nicht völlig unmöglich, aber für sehr ambitioniert", das Drei-Prozent-Ziel der Union zu erreichen.

Es handele sich aber um eine "schwierige Aufgabe, die langen Atem und erheblichen Mitteleinsatz erfordert".

Die Wirtschaft wächst doch - wo ist dann das Problem?

"Wenn man die Arbeitslosigkeit so deutlich senken will", sagt Holger Schäfer, "dann muss man an die Problemfelder ran, und dann wird es richtig aufwendig".

Sorgenkinder der Statistik sind die sogenannten Langzeitarbeitslosen - das sind diejenigen, die seit mehr als einem Jahr arbeitslos sind.

Zum einen wird die Rückkehr in den Beruf schwieriger, je länger man arbeitslos ist. Zum anderen sind viele dieser Arbeitslosen schwer zu vermitteln.

Wenn es um Sucht- und Schuldenprobleme, um Krankheit, Behinderung und ähnliche "Vermittlungshemmnisse" geht, hilft Wirtschaftswachstum alleine nicht weiter.

Erforderlich seien, so Schäfer, Förderprogramme wie Qualifikations- und Wiedereingliederungsmaßnahmen, in erster Linie aber eine bessere Betreuung der Langzeitarbeitslosen: Die derzeitige reiche nicht aus, um echte Förderung zu gewährleisten, "zumal viele Jobcenter nicht mal die staatlichen Vorgaben erfüllen".

Mancherorts gebe es nach wie vor nicht genügend Betreuer, um Arbeitslose bei ihrer Rückkehr in die Arbeitswelt zu unterstützen. Doch selbst das genüge auf Dauer nicht: Gegen das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit gebe es "keine Patentrezepte", vielmehr mangele es auch an "neuen Ideen".

Vor allem aber gehe es darum, "dass die Menschen in den Betrieben eine Perspektive haben" - also ausreichende Entlohnung und die Aussicht, langfristig im Job bleiben zu können.

Führt Vollbeschäftigung zu Preisanstieg?

Ökonomen sprechen vom "magischen Viereck", wenn es um die Beziehung zwischen Beschäftigung, Inflation, Wirtschaftsleistung und Außenhandel geht.

So kursiert die Furcht, mehr Beschäftigung führe unter anderem zu mehr Nachfrage und damit zu höheren Preisen. Schäfer glaubt nicht an diese Theorie.

Gerade die gegenwärtige Situation in Deutschland sei ein Beweis dafür, dass die Annahmen nicht stimmten: "Wir haben eine sehr niedrige Arbeitslosigkeit und trotzdem weiterhin eine sehr niedrige Inflation." Inflationsgefahr gehe weiterhin nicht von der Entwicklung der Beschäftigungssituation aus, sondern von der Geldmengensteuerung - und damit vor allem von Entscheidungen der Europäischen Zentralbank.

Allenfalls müsse man bei weiter sinkender Arbeitslosigkeit mit Arbeitskräftemangel rechnen, etwa in Bundesländern wie Bayern und Baden-Württemberg, die schon jetzt sehr niedrige Arbeitslosenquoten haben.

Vollbeschäftigung in Deutschland, davon ist Schäfer überzeugt, würde positive Folgen haben. Vor allem die "Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme" wäre seiner Ansicht nach ein nachhaltiger Effekt von sinkender Arbeitslosigkeit.

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