Von null auf Regierungsbeteiligung in gerade mal acht Monaten? Das Bündnis Sahra Wagenknecht ist vor den Landtagswahlen im Osten auf Erfolgskurs und könnte in Thüringen bald gar die Ministerpräsidentin stellen. Sie hieße: Katja Wolf. Die kämpft nicht nur gegen die AfD, sondern auch mit dem Mangel an Manpower und Strukturen in der neu gegründeten Partei.

Ein Porträt
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Ihr Handy schafft es nicht, sich in den Videocall zum Interview einzuwählen. Also fährt Katja Wolf den Laptop hoch. Mit dem klappt es – doch im Bild ist sie erst mal trotzdem nicht. Sie sucht noch eine Steckdose. Ihrer guten Laune können die Startschwierigkeiten jedoch nichts anhaben. So sei das eben, Wahlkampf zu machen für das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), eine Partei, die erst seit acht Monaten existiert und die in Thüringen gerade mal 80 Mitglieder hat, sagt sie lachend.

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Wolf tritt dort als Spitzenkandidatin zur Landtagswahl am 1. September an. Und muss sich nicht nur selbst um die Technik kümmern, sondern zu Terminen auch selbst die Häppchen mitbringen.

"Natürlich denke ich manchmal: 'Was hab' ich mir da bloß angetan?'", gibt Wolf zu. Sie ist 48, zweifache Mutter und hat in der Linken Karriere gemacht: 1999, mit 23 Jahren, zog sie in den Thüringer Landtag ein. 2012 wurde sie Oberbürgermeisterin von Eisenach. Als solche hatte sie zwei Sekretärinnen im Vorzimmer sitzen, eine persönliche Referentin, eine Büroleiterin, eine Pressestelle und eine Partei mit ausgereiften Strukturen im Hintergrund. Jetzt kämpft sie mit einem Kernteam von zehn Leuten.

Trotzdem mache dieser Wahlkampf großen Spaß, beteuert Wolf. "Bei uns herrscht unglaubliche Aufbruchstimmung. Man denkt: Boah, was für eine besondere Zeit und was für ein Wahnsinn. Aber am Ende überwiegt eindeutig die positive Energie und nicht der Wahnsinn."

Linke oder BSW? Eine schwere Entscheidung für Katja Wolf

Der Wechsel zum BSW ist Wolf nicht leichtgefallen. Monatelang habe sie mit sich gerungen, erzählt sie. Sollte sie der Linken, die über Jahrzehnte ihre politische Heimat war, wirklich den Rücken kehren? Und das, obwohl BSW-Gründerin Sahra Wagenknecht am kommunistischen Ufer des linken Spektrums zu Hause ist, sie am gegenüberliegenden? "Es war ein bisschen wie nach 30 Jahren Ehe", sagt Wolf. "Irgendwann stellen sie fest, dass es eine gewisse Zerrüttung, eine gewisse Entfremdung gibt. Der Trennungsprozess ist trotzdem sehr schwierig. Aber wenn sie sich getrennt haben, merken sie: Es war an der Zeit und es war richtig."

Den Ausschlag gab die Hoffnung, dass es mit dem BSW, anders als mit der Linken, gelingen kann, der AfD Einhalt zu gebieten und Björn Höcke als Ministerpräsident zu verhindern. Und Thüringen von seiner Landesregierung zu befreien. Denn das rot-rot-grüne Bündnis unter Bodo Ramelow (Linke) hat seit 2020 im Landtag keine Mehrheit mehr. Mit der AfD will keiner arbeiten, die CDU arbeitet nicht mit der Linken. Eine "völlige Blockadesituation", die das Land lähme, wie Wolf sagt.

Die Entwicklung der letzten Monate nährt ihre Hoffnung. Bei der Europawahl im Juni hat das BSW in Thüringen aus dem Stand 15 Prozent der Stimmen geholt. Die jüngste Wahlumfrage der Forschungsgruppe Wahlen sieht die Partei bei 19 Prozent, während die Linke demnach fast die Hälfte ihrer Wähler verlieren und nur noch bei 15 Prozent landen könnte. Die SPD liegt bei rund sieben Prozent, die Grünen bangen gar um den Wiedereinzug ins Parlament. Die CDU ist dem BSW nur zwei Prozentpunkte voraus.

Sollte Wolfs Partei am Wahltag an den Christdemokraten vorbeiziehen, könnte sie sogar Ministerpräsidentin werden. Von null auf Landeschefin in acht Monaten – es wäre eine Sensation. "Ich scheue die Verantwortung nicht", sagt Wolf dazu. "Aber es ist definitiv nicht so, dass wir schon die Ministerien untereinander aufgeteilt hätten."

Frieden in der Ukraine steht im Thüringer BSW-Programm ganz vorn

Zumindest eine Regierungsbeteiligung der Neulinge ist wahrscheinlich. Denn der bundesweit geltende Beschluss der CDU, nicht mit der Linken zu kooperieren (Unvereinbarkeitsbeschluss), könnte die Partei in Thüringen in eine Koalition mit dem BSW zwingen. Wolf kündigt an, nach der Wahl mit allen demokratischen Parteien Gespräche zu führen – und meint damit ausdrücklich nicht die AfD.

Dass die Rechtsextremisten am 1. September stärkste Kraft werden, gilt als ausgemacht. Bei der Europawahl gab in Thüringen fast jeder Dritte der AfD seine Stimme. Auch in Umfragen steht sie bei rund 30 Prozent. Aus Sicht von Katja Wolf tragen daran alle Parteien eine Mitschuld. "Die Strategie, die AfD in die Schmuddelecke zu stellen und dann so zu tun, als sei sie nicht da, ist aus meiner Sicht gänzlich gescheitert." Sie fordert einen "argumentativen Umgang" mit der Partei. Heißt auch: Sofern sie Positionen mit der AfD teilt, ist sie bereit, mit ihr zu stimmen. Ein vernünftiger Vorschlag bleibe ein vernünftiger Vorschlag, auch wenn er von der AfD komme.

Den Aufstieg der AfD bremsen zu wollen, ist ein legitimes Ziel. Doch wofür steht das BSW noch? Im Wahlprogramm steht die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine und bedingungslosen Friedensverhandlungen mit Russland ganz vorne – wenngleich eine Landesregierung bei diesem Thema so gut wie gar nichts zu sagen hat. Weitere Schwerpunkte sind die Bildungspolitik sowie die Stärkung des ländlichen Raums und der Kommunen.

"Auf den Dörfern im Thüringer Wald fühlen sich die Menschen völlig abgehängt, weil es keine Sparkasse, keinen Arzt, keine Schule und nicht mal mehr einen Bus gibt."

Katja Wolf, BSW-Spitzenkandidatin

Letztere Punkte greif auch Wolf im Gespräch heraus. Die Menschen erlebten derzeit an vielen Stellen, dass das Land nicht funktioniere, sagt sie. "An Thüringer Schulen fällt wahnsinnig viel Unterricht aus, weil Lehrer fehlen. Die Bürokratie erdrückt die Menschen. Auf den Dörfern im Thüringer Wald fühlen sich die Menschen völlig abgehängt, weil es keine Sparkasse, keinen Arzt, keine Schule und nicht mal mehr einen Bus gibt."

Diese Probleme ließen sich nicht über Nacht lösen, schon klar. Aber sie wolle sie ernst nehmen und anpacken und glaubt, so einem Gefühl entgegentreten zu können, von dem sie häufig spricht: Entfremdung. Die Linke habe sich in den vergangenen Jahren zu stark auf ein junges, urbanes, privilegiertes Milieu konzentriert und dabei die normalen Leute, "die Malocher", aus dem Blick verloren. Dass die Unterbringung der Flüchtlinge viele Kommunen völlig überfordert hat, von der rot-rot-grünen Landesregierung aber keine Unterstützung kam, nennt sie als ein Beispiel aus ihrem Leben als Bürgermeisterin.

Katja Wolf tourt mit Sahra Wagenknecht durch Thüringen

Und so ist es aus Ihrer Sicht zwar beklagenswert, aber nicht verwunderlich, dass die Linke in der Wählergunst zuletzt massiv abgerutscht ist – BSW hin oder her, wie Wolf betont: In Eisenach zum Beispiel ist das BSW zur Stadtratswahl im Mai gar nicht angetreten. Die Linke verlor dennoch rund 13 Prozent.

Nicht mal mehr drei Wochen bleiben bis zur Wahl. Für Wolf heißt es bis dahin: weiter malochen. Eine Tour durch Thüringen ist geplant, mit sechs Auftritten in größeren Städten, gemeinsam mit Sahra Wagenknecht. Außerdem heißt es Interviews geben, Brötchen besorgen, Steckdosen suchen. Und mit dem 1. September fängt die Arbeit dann wohl erst so richtig an.

Verwendete Quellen

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