So umfassend wie nur wenige hat der Augsburger Fotograf Daniel Biskup (56) die Wende und das Leben in Ostdeutschland nach dem Mauerfall dokumentiert. Nicht umsonst nannte ihn die "Bild" einst das "Auge der deutschen Einheit". Sein neuer Bildband zeigt bislang größtenteils unveröffentlichte Aufnahmen aus den Jahren 1990 bis 1995. Biskup glaubt, in seinem Archiv Hinweise auf die Ursachen für den heutigen Frust vieler Ostdeutscher gefunden zu haben.
Herr Biskup, im August '89 sind Sie nach Budapest gereist, um DDR-Flüchtlinge zu fotografieren, die von dort ihre Ausreise nach Westdeutschland erzwingen wollten. Sie waren damals Mitte 20, aufgewachsen in Westdeutschland. Woher rührte Ihr Interesse?
Daniel Biskup: Ich habe Neuere und Neueste Geschichte und Politik studiert. Wenn die Uni eines gebracht hat, war es ein Gefühl dafür, wann Geschichte passiert. Nach dem Paneuropäischen Picknick an der österreichisch-ungarischen Grenze war mir klar, dass sich da Veränderung anbahnt. Ich dachte: Wer jetzt vor dem Fernseher sitzt, dem ist nicht zu helfen. Ich möchte das erleben. Zumal als Hobbyfotograf, der sich sein Studium mit fotografieren und schreiben verdient hat. Also bin ich nach Ungarn gefahren.
Das Fotografieren war damals nur ein Hobby?
Es ist bis heute ein Hobby. Wenn ich fotografiere, habe ich nicht das Gefühl, dass ich arbeite. Das ist ein großes Geschenk.
Als die ersten DRR-Flüchtlinge in Bayern eintrafen, standen Sie in Passau am Bahnsteig. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Bilder von damals sehen?
Die Freude der Geflüchteten war riesig. Sie sind diesen Schritt freiwillig gegangen und waren bereit, sich an das Leben im Westen anzupassen.
Klingt nach einem "aber".
Die Freude der Geflüchteten sagt nichts über das Empfinden der Allgemeinheit aus. Ich habe neulich bei einer Führung durch meine Ausstellung in Augsburg in die Runde der etwa 120 Besucher gefragt, wer in den Monaten nach dem Mauerfall in Berlin war. Gemeldet haben sich zwei. Die anderen sagten: "Was im Osten passiert, hat uns vor dem Mauerfall nicht tangiert und danach auch nicht." Für die meisten Menschen im Westen ging das Leben einfach weiter. In den 40 Jahren Teilung hatten sich die beiden Deutschlands auseinandergelebt.
Im Osten war die Wende-Euphorie größer: Am 4. November 1989 haben auf dem Alexanderplatz in Ostberlin über eine Million Menschen für ihre Freiheit demonstriert.
Das stimmt, aber man muss bedenken, dass nicht alle, die damals auf die Straße gegangen sind, die Wiedervereinigung wollten. Die Devise war zunächst "Wir sind das Volk". Viele Menschen wollten mehr persönliche Freiheit und den Sozialismus demokratisieren. Mit dem Mauerfall hieß es dann plötzlich "Wir sind ein Volk", und es haben teils ganz andere Menschen demonstriert, während die Demonstranten von vorher daheim blieben. Der Teil, der nicht die Wiedervereinigung wollte, sondern, dass die DDR ihren eigenen Weg geht, hat sich am Ende verraten gefühlt.
Als die Mauer fiel, haben Sie kurzerhand einen Foto-Auftrag der "Süddeutschen Zeitung" abgesagt und sind nach Berlin gefahren. Haben Sie denn gar nicht gezögert?
Ich saß in einem Café in Augsburg, als ich hörte, dass die Mauer offen ist. Ich habe fünf Minuten nachgedacht – oder nein, vermutlich waren es nur zwei –, dann war mir klar: Das Schloss, das ich für die SZ fotografieren soll, steht übermorgen auch noch. Also habe ich einen Freund angerufen und ihm gesagt, dass wir nach Berlin müssen. Abends um neun saßen wir im Auto, morgens um drei standen wir am Brandenburger Tor.
Dieses Bild entstand am 10. November '89, dem Tag nach dem Mauerfall. Am Grenzübergang Bornholmer Straße fallen sich zwei Frauen in die Arme – ein Wiedersehen nach Jahren. Wie erklären Sie jemandem, der nicht dabei oder vielleicht noch nicht einmal auf der Welt war, welche Stimmung herrschte?
An den Grenzübergängen fühlte es sich an, als hätten wir die Fußball-Weltmeisterschaft gewonnen und wären gleichzeitig auf dem Mars gelandet. Dass sich diese beiden Frauen - eine aus dem Osten, eine aus dem Westen - plötzlich umarmen konnten, war kaum zu fassen. Schließlich hatte bis April noch der Schießbefehl gegolten. Solche Szenen habe ich damals zuhauf beobachtet. Ich wurde von einem Tsunami unglaublicher Bilder überrollt.
Aus Ihren Fotos aus den Jahren '89 und '90 ist 2015 der Bildband "Budapest-Berlin. Mein Weg zur Einheit" entstanden. Für Ihr neues Buch "Wendejahre" haben Sie Ihr Archiv der Jahre '90 bis '95 durchforstet. Im Vorwort heißt es, den Anstoß dazu habe die aktuelle Situation in Ostdeutschland gegeben.
Die Motivation für das Projekt kam, als sich die Unzufriedenheit der Ostdeutschen und die Sprachlosigkeit zwischen Ost und West in Fremdenfeindlichkeit, Pegida und den Wahlerfolgen der AfD manifestiert haben. Ich habe 15.000 Dias gesichtet, 5.000 gescannt und mir Sponsoren gesucht, um den Bildband finanzieren zu können. Das Projekt ist mir wichtig, weil ich glaube, dass die Bilder die Ursachen für den Frust im Osten transportieren.
Nehmen wir das Titelbild.
Es symbolisiert die Nachwendezeit besonders gut. Nach der Einführung der D-Mark ging es in vielen Ost-Betrieben wirtschaftlich bergab. Der Besitzer des Lasters hat versucht, die Auftragsflaute mit Werbeeinnahmen zu kompensieren. Als ich den Laster das erste Mal fotografiert habe, fuhr er noch herum. Ein Jahr später fand ich ihn heruntergekommen am Straßengraben. Offenbar war der Betrieb in der Zwischenzeit pleite gegangen.
Ist am Niedergang der DDR-Wirtschaft der Westen schuld? Die Menschen im Osten haben sich ja offenbar sehr bereitwillig von ihren DDR-Produkten getrennt.
Neben dem Vorgehen der Treuhand hat sicher auch das eigene Kaufverhalten eine Rolle gespielt. Diese Schrottplätze in den Innenstädten – das hatte es vor der Einführung der D-Mark nicht gegeben. Dann plötzlich hatten die Menschen die Möglichkeit, West-Produkte zu kaufen und der Trabbi, der Fernseher aus der UdSSR und die Möbel aus Zeulenroda landeten auf dem Müll.
Mit der Einführung der D-Mark haben in den Geschäften von heute auf morgen westdeutsche Marken dominiert - nur eine von vielen abrupten Veränderungen, mit denen die Menschen damals klar kommen mussten. Wurden sie nicht ausreichend unterstützt?
Der Westen hat gesagt: Wir zahlen doch - was wollt ihr mehr? Man hat in die Infrastruktur investiert, die Menschen mit dem Verlust des gesellschaftlichen Umfelds aber allein gelassen. Das Kollektiv war plötzlich nicht mehr wichtig. Um zu überleben musste man sich den Regeln des Kapitalismus unterwerfen. Viele haben ihren Arbeitsplatz verloren. In der Platte hatte der Arzt neben dem Bauarbeiter und der Parteifunktionär neben der Verkäuferin gewohnt. Plötzlich wohnten die Klassen separiert. Diese Umbrüche haben viele überfordert.
Gleichzeitig denke ich, dass die Menschen im Osten auch überhöhte Erwartungen an die Wiedervereinigung hatten, die nicht erfüllt werden konnten. Sie hatten nur so eine Fernseh-Vorstellung von Westdeutschland, die zu großen Teilen auf Werbebildern beruhte. Vom Osten aus sah man nicht, dass es auch im Westen arme Menschen und strukturschwache Regionen gab. Man hat nur den Glitzer wahrgenommen, nicht die Schattenseiten.
Die meisten Ihrer Bilder aus dieser Zeit zeigen normale Leute im Alltag. Warum dieser Fokus?
Als Jugendlicher hat mir mein Vater einen Bildband von Henri Cartier-Bresson geschenkt, mit Fotos, die der in den 50er-Jahren in Moskau aufgenommen hatte. Schon da habe ich gemerkt: alltägliche Szenen sagen häufig sehr viel aus.
Erinnern Sie sich an die Menschen, die Sie fotografiert haben, etwa an diese Friseurinnen aus Bitterfeld?
Ich habe Tausende Menschen fotografiert und erinnere mich nicht an jeden einzelnen. Aber sicher habe ich nett mit den Beiden gequatscht – ich muss sie ja dazu bekommen haben, sich für das Bild vor den Laden zu stellen.
Dieses Bild mit Richard von Weizsäcker und Angela Merkel entstand 1992 bei einer Demonstration. In späteren Jahren haben Sie Angela Merkel dann auch porträtiert, außerdem Karl Lagerfeld, Vladimir Putin und andere Prominente. Hat der Bekanntheitsgrad Ihres Gegenübers Einfluss darauf, wie Sie arbeiten?
Nein. Ich gehe mit allen gleichermaßen respektvoll um.
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