Eine Popliteratin wird ermordet. Die Kommissare Brix und Jannecke fangen an, ihr autobiografisches Buch zu lesen. Die uralte Frage an die Literatur wird in "Luna frisst oder stirbt" zum zentralen Problem der Ermittlungen: Was ist Fiktion, was Wirklichkeit? Der Frankfurter "Tatort" findet dafür eine effektvolle Bildersprache.

Eine Kritik
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"Es geht darum, wie sich etwas anfühlt", sagt eine Schriftstellerin in "Luna frisst oder stirbt" einmal. "Nicht darum, was objektiv passiert ist." Das ist bei Kriminalfällen ja ein bisschen anders. Mit diesem Unterschied zwischen Literatur und Polizeiarbeit arbeitet der neue "Tatort" aus Frankfurt.

Genauso wie mit einer anderen Volksweisheit: Beim Lesen entstehen Bilder im Kopf, heißt es immer, wenn die Literatur gegenüber dem Fernsehen gepriesen wird, das rege die Fantasie viel stärker an als vorgefertigte Bilder.

Was aber, wenn die Bilder im Kopf lesender Kommissare entstehen und sie womöglich auf eine ganz falsche Fährte locken?

Ein Roman als Sozialarbeit

Es geht um den Fall der toten Jungschriftstellerin Luise (Jana McKinnon). Die 19-Jährige hat gerade ihren Debütroman veröffentlicht. Ihr Buch "Luna frisst oder stirbt" handelt von der sozial benachteiligten Luna, die unter schwierigen Bedingungen aufwächst. Oft muss sie sich um ihre jüngere Schwester kümmern, weil ihre alleinerziehende Mutter den Stress manchmal im Alkohol ertränkt und leicht jähzornig wird.

Autorin Luise kommt aus gutbürgerlichem Hause. Sie ist die Tochter einer sozial engagierten Stadträtin und begreift ihren Roman auch als Sozialarbeit: "Kämpft mit Luna gegen die Chancenungleichheit!", fordert sie die Leser in den Promovideos auf, die ihr Verlag in den sozialen Medien streut. Dort ist man ganz begeistert von so viel jugendlichem Furor.

Doch nach der Premierenparty für ihr Buch liegt Luise tot am Mainufer. Und Kommissarin Anna Janneke (Margarita Broich) beginnt zu lesen.

Fiktion und Wirklichkeit

Zu den Passagen von Luises autobiografischem Ich-Roman sehen wir die Bilder, die vor Jannekes geistigem Auge entstehen: Luise, die hungrig vor dem leeren Kühlschrank steht. Luise, die versucht, ihre bewusstlos auf dem Boden liegende Mutter wachzuschütteln. Bilder, die einen Selbstmord erklären würden.

Dann werden echte Bilder Teil der Ermittlungen: Die Promovideos und Aufnahmen von der Premierenparty verweisen auf den großen Druck, dem Luise seitens ihres Verlages ausgesetzt gewesen sein muss: Ihr überengagierter Lektor Marvin (Thomas Prenn) scheint unbedingt teilnehmen zu wollen am Medienzirkus um die Autorin und Verleger Roland Häbler (Clemens Schick) setzt offensichtlich die letzten Hoffnungen für seinen Kleinstverlag in "Luna frisst oder stirbt". Er will sofort eine Fortsetzung.

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Und schließlich ist da noch Luises Freundin Nellie, die nicht im schicken Altbau, sondern in einer Sozialwohnung lebt. Mit einer jüngeren Schwester und einer gestressten alleinerziehenden Mutter.

Jetzt beginnt auch Kommissar Paul Brix (Wolfram Koch) das Buch zu lesen. Assistent Jonas (Isaak Dentler) fragt lakonisch, ob er mitmachen dürfe im gemütlichen Lesekreis – und bald sieht auch er die Welt durch Lunas Augen. Die uralte Frage an die Literatur wird zum zentralen Problem der Ermittlungen: Was ist Fiktion, was Wirklichkeit?

Bilder der Dramatik: Schwäche und Stärke zugleich

So verwandelt sich der "Tatort" unter Katharina Bischofs Regie (die außerdem mit Autorin Johanna Thalmann für das Drehbuch verantwortlich zeichnet) und mit Julia Daschners Kamera in eine effektvolle, nie angestrengte oder anstrengende Krimidoku: Konventionelle Krimiszenen wechseln sich ab mit dem Filmmaterial, das den Kommissaren im Internet zur Verfügung steht und den Bildern, die im Kopf der lesenden Ermittler entstehen.

Grelle Bilder sind das oft, getaucht in das Licht einer harten Realität, der nichts Sozialromantisches und schon gar nichts Heimeliges anhaftet. Bald verschwimmen die Grenzen zwischen Luise, Nellie und Luna. Ist Luna eine verzweifelte Luise, versteckt im Elend Nellies? Oder ist sie die verzweifelte Nellie, gepaart mit der Wut Luises?

Es sind intensive, subjektive Bilder voller Dramatik, die zeigen, wie sich etwas anfühlt. Darum geht es diesem "Tatort", darin liegt seine Stärke - und indirekt auch seine Schwäche: Denn weil "Luna frisst oder stirbt" sich nicht traut, sich ganz auf das vielschichtige Bilderspiel mit Fiktion und Realität zu verlassen, werden brav viele Verdächtige präsentiert und falsche Fährten gelegt. Dabei blähen sie die Geschichte nur unnötig auf und lassen den Krimiplot konstruiert dahinholpern, was dem Film etwas von seiner emotionalen Wucht nimmt.

"Luna frisst oder stirbt" hätte sich ruhig noch mehr auf seine Eigenwilligkeit verlassen können. Zumal hier ausgezeichnete Darstellerinnen am Werk sind, allen voran Lena Urzendowsky als Nellie und Tinka Fürst als ihre Mutter Jessie. "Es geht darum, wie sich etwas anfühlt, nicht darum, was objektiv passiert ist" - das gilt eben nicht nur für engagierte Popliteratur, sondern auch für gute Krimis.

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