• Der Münster-"Tatort" mit Axel Prahl und Jan Josef Liefers feiert sein 20. Jubiläum.
  • Bei keinem anderen "Tatort" schalten regelmäßig so viele Zuschauer ein – aber woran liegt das?
  • Ein Medienpsychologe erklärt, was speziell den Münster-"Tatort" so erfolgreich macht und warum wir allgemein Krimis so lieben.
Ein Interview

Der Tod ist in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabu-Thema, Krimis gehören trotzdem zu den Dauerbrennern im Fernsehen. Warum lieben wir Krimis wie den "Tatort" so sehr?

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Peter Vitouch: Was uns daran gefällt, ist die Vorhersagbarkeit. Krimis haben eine klar definierte Struktur: Ein Verbrechen wird begangen, es wird ermittelt und in den allermeisten Fällen wird der Täter identifiziert und bestraft. Im Grunde genommen ist es immer das Gleiche, aber trotzdem lieben es die Leute. Das folgt dem psychologischen Konzept der "gelernten Hilflosigkeit" des amerikanischen Psychologen Martin Seligman.

Was besagt dieses Konzept?

Wir halten Kontrollverlust schlecht aus - das passiert aber sehr oft in unserem täglichen Leben. Wir haben keine Kontrolle über die wirtschaftliche Entwicklung, die Pandemie oder darüber, ob in der Ukraine Krieg geführt wird. Im Alltag gibt es mehr Kontrollmöglichkeiten, zum Beispiel im Beruf, aber auch die hat nicht jeder. Und Kontrollverlust führt letztlich zu Ängsten, Depressionen und Apathie, deswegen versuchen wir das zu vermeiden. Noch schwerer wiegt für uns aber der Verlust der Vorhersagbarkeit. Wir können nicht kontrollieren, wie eine Wahl ausgeht, aber es ist uns ganz wichtig, mit Hochrechnungen eine Vorhersagbarkeit zu entwickeln. Man könnte ja auch einfach zwei Tage bis zum Endergebnis warten, aber das ist für Menschen offensichtlich unerträglich. So ähnlich ist das mit der Dramaturgie. Eine klare Dramaturgie mit klar definierten Figuren liefert Vorhersagbarkeit in einem definierten Rahmen.

Vorhersagbarkeit in einem Krimi, das klingt irgendwie langweilig.

Ein guter Krimi muss schon ein bisschen Spannung liefern, damit man selbst am Rätsel teilnehmen kann. In die klare Dramaturgie mit den klar definierten Figuren werden ein paar Überraschungen eingebaut, aber nicht zu viele und nicht zu schlimme. Und die Fälle müssen schon eine gewisse Qualität und eine einigermaßen vernünftige Lösung haben, die man nicht von Anfang an kommen sieht.

Eine klar definierte Struktur haben die meisten "Tatorte" – die besten Quoten holt regelmäßig der "Tatort" aus Münster. Warum ist speziell dieser "Tatort" so beliebt?

Weil da eine gehörige Prise Humor dabei ist. Da sehe ich auch Parallelen zum Wiener "Tatort", der im Rating auch weit vorne liegt. Durch den Klamauk wird klar, dass es sich um eine amüsante Möglichkeit handelt, nicht um eine Tatsächlichkeit. Das Opfer oder die Leiche an sich rückt in den erfolgreichen Krimis häufig in den Hintergrund. Es ist ja auch völlig lächerlich, dass in Münster so viele Morde geschehen und der Zuschauer weiß das auch. Das ist der Unterschied zwischen Realität und Medienrealität. Die Gewalttat ist hier nur der Mantel, eigentlich geht es um die Reibereien und Skurrilitäten der Figuren. In diesem Sinne ist der Münster-"Tatort" eine sehr gekonnte Aufarbeitung zwischenmenschlicher Beziehungen, die nur angestoßen werden von einem Verbrechen, das man aber nicht in Großaufnahme zu sehen bekommt.

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Das heißt, die anderen "Tatorte" sind zu ernst, um solch gute Quoten zu erreichen?

Andere "Tatorte" versuchen zum Teil aus der Medienrealität auszubrechen und eine beklemmende Tatsächlichkeit zu inszenieren. Die Kommissare wanken alle am Rande der psychischen Störung, sind von Seelenblähungen gequält, die Atmosphäre ist bedrückend. Das ist ein anderer dramaturgischer Ansatz, der im Allgemeinen aber nicht so erfolgreich ist, weil die Leute im täglichen Leben genug Probleme haben. Auf diese pseudo-realistischen Krimis lassen sich eher die Menschen ein, die in ihrem Alltag genug Kontrollmöglichkeiten haben. Wer die nicht hat, will nicht auch noch beim Fernsehen den Kontrollverlust erleben.

Es heißt, dass es mehr weibliche als männliche Krimifans gibt. Lässt sich das auch damit erklären?

Ja, das ist naheliegend. Frauen leben leider noch immer oftmals in Situationen, in denen sie weniger Möglichkeiten haben, etwas außerhalb eines bestimmten Rahmens zu bewirken. Deswegen könnte die "erlernte Hilflosigkeit" hier durchaus ein stärkerer Aspekt sein als bei Männern.

Wie wichtig ist die Dynamik zwischen Professor Boerne und Kommissar Thiel für den Erfolg des "Tatorts"?

Sehr wichtig, der Münster-"Tatort" lebt von der Dynamik zwischen diesen beiden Figuren. Es ist eine Hassliebe, aber sie können auch nicht ohne einander. Außerdem sind Axel Prahl und Jan Josef Liefers hervorragende Schauspieler. Hinzu kommen noch weitere skurrile Figuren, die Staatsanwältin und Alberich zum Beispiel. Man weiß immer schon vorher, wie sie reagieren werden. Das dramaturgische Klischee liefert die Vorhersagbarkeit.

Professor Boerne ist arrogant, selbstverliebt, beleidigend – und die Zuschauer lieben ihn. Hätte man so jemanden in seinem Umfeld, würde man einen weiten Bogen um ihn machen. Wie kann ein absoluter Unsympath zum Publikumsliebling werden?

Weil er Dinge sagt und tut, die man vielleicht selbst gerne tun würde, aber sich natürlich verbietet. Jemand wie Professor Boerne würde im realen Leben ja sofort aus seinem Beruf entfernt werden, so wie er mit seiner kleinwüchsigen Assistentin umgeht. Es ist einfach amüsant zuzuschauen, wie arrogant und herablassend er ist und gleichzeitig so dünnhäutig. Er ist eben eine Kunstfigur, und da ist wieder der Unterschied zu den anderen "Tatorten", die versuchen, eine Tatsächlichkeit vorzuspielen und möglichst realistisch sein wollen.

Boerne fordert Alberich einmal auf, das Sekttablett über dem Kopf zu tragen, damit sich nicht alle so tief bücken müssen. Grenzwertige Sprüche wie dieser sind im "Tatort" aus Münster die Regel.

Es ist zum Teil tatsächlich nicht tragbar, was da gesagt wird. Aber im Münster-"Tatort" geht das trotzdem, weil die Figuren so viel Standing haben. Alberich ist eine Person, die sich selbst emanzipiert. Sie kontert Professor Boerne und läuft nicht beleidigt davon. Im Grunde genommen hat sie im Labor das Heft in der Hand. Sie sind in ihrer Skurrilität aneinandergekettet.

Welchen "Tatort" mögen Sie am wenigsten?

Der Berliner "Tatort" ist etwas mühsam, weil die Kommissare unter den schwierigsten persönlichen Problemen stehen. Auch der Dortmunder "Tatort" mit dem Kommissar, der nur durch die Gegend wankt und unter den schlimmsten Seelenqualen leidet, ist nicht mein Fall. Damit habe ich genug in meinem Beruf als Psychologe zu tun.

Über den Experten: Prof. Peter Vitouch ist ein österreichischer Medienpsychologe und Professor am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien. Er gilt als der Pioniere der psychologischen Medienforschung in Österreich und war 1989 Mitbegründer der der wissenschaftlichen Zeitschrift "Medienpsychologie". Als Berater war er für den ORF, BR und NDR tätig und wurde von 2010 bis 2014 vom Bundeskanzleramt in den ORF-Publikumsrat entsandt.

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