Gestelzte Dialoge und Spießer im Sexrausch: Der Schwarzwald-"Tatort" "Ich hab im Traum geweinet" ist ein närrisches Debakel.

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Es bietet sich nicht oft die Möglichkeit, einen "Tatort" mit einer Ballade von Heinrich Heine zu verreißen. Aber dieser Schwarzwald-Krimi ist voller Lieder, die auf Gedichten von Heinrich Heine beruhen, schon der Titel "Ich hab im Traum geweinet" zitiert ein Werk von ihm. Und die Lieder sind (geschrieben und gesungen von Jens Thomas) ironischerweise das Beste an dieser Folge.

Deshalb fangen wir mal mit einer Strophe aus Heines "Der Tannhäuser" an, die vom Besuch des Ritters Tannhäuser in der Region handelt: "In Schwaben besah ich die Dichterschul, Gar liebe Geschöpfchen und Tröpfchen!/ Auf kleinen Kackstühlchen saßen sie dort, Fallhütchen auf den Köpfchen." Heine demonstrierte damit 1836 seine Verachtung für schwäbische Dichter, aber man könnte meinen, Tannhäuser wollte den "Tatort" vom Sonntag kommentieren.

"Tatort"-Kommissare ermitteln während der Fasnet

Was für ein seltsamer, seltsamer "Tatort" das ist: Die beiden Kommissare dauerbetrunken, das halbe Dorf säuft, ständig verschlingen sich nackte Glieder, Sex und Betrug wo man nur hinsieht. Die reinste Orgie, könnte man meinen.

Aber wir befinden uns in der schwäbisch-alemannischen Fasnet, der lokalen Variante von Fasching beziehungsweise Karneval – ein Teil der Dreharbeiten fand während der Fasnet 2019 im badischen Elzach bei Freiburg statt, die maskierten Narren, die mit ihren Ruten durch die Straßen ziehen und gemäß der alemannischen Tradition die braven Bürger "bestrafen", sind echt. Allerdings sparen wir uns alle billigen Witze über das Ländle, denn der scheinbare Widerspruch zwischen Kehrwoche und Karneval ist nicht das Problem dieses "Tatort".

Zu den gar nicht so braven Bürgern gehören auch die Krankenpflegerin Romy und ihr Freund, der Arzt David. Die lieben und schlagen sich gerne mal, ganz freiwillig. Romy war früher Prostituierte in Karlsruhe. Für den netten David, der sich rührend um Romys kleinen Sohn Jonas kümmert und außerdem noch eine Mutter im Rollstuhl zuhause sitzen hat, ist das genau die richtige Prise Verruchtheit, manchmal treibt er es mit Romy im Sprechzimmer der Klinik, in der beide arbeiten – fast, als hätte er sich eine Hure ins Büro bestellt.

Lust, Rausch, und Bestrafung im Schwarzwald-"Tatort"

Aber dann reist der Karlsruher Richter Philipp Kiehl mit seiner Frau an, die im Schwarzwald eine Schönheitsoperation gebucht hat. Sie will sich ihr Gesicht straffen lassen – was angesichts der Tatsache, dass Elena von der aparten Bibiana Beglau gespielt wird, ja eigentlich lächerlich ist. Und ihr Ehemann ist ein ganz besonders lustiger, der witzelt während der Vorbesprechung, David solle ihr doch gleich noch ein Paar "ordentlich dicke Tüten" verpassen, und grapscht Elena vor dem Arzt an den Busen.

Dann geht er ins Hotel und trifft sich mit Romy, die er von früher kennt. Er vermutet, dass Jonas sein Sohn sei. Und bei der Gelegenheit steigt er gleich noch mit Romy ins Bett, quasi aus alter Gewohnheit vögeln und schlagen auch sie sich.

Weil sie Lust darauf hatte, wird Romy Kommissar Wagner achselzuckend erklären, sie habe Philipp eben gemocht. Der liegt später nämlich blutüberströmt im Hotelzimmer, erschlagen mit einem Aschenbecher.

Es wird ständig gevögelt und gehauen in diesem "Tatort", ein orgiastisches Treiben, könnte man meinen, und natürlich soll es um die Fasnacht als Ausnahmezustand vor der Fastenzeit gehen, um Rausch, Enthemmung, Lust und Grenzüberschreitung, um Bestrafung, Buße und Befreiung. Aber woran dieser "Tatort" viel eher erinnert, sind die Nachmittagstalkshows der neunziger Jahre.

Diese Fremdschämfeste, moderiert von Arabella Kiesbauer & Co., in denen Laiendarsteller wie du und ich Sätze sagten wie "Du, das finde ich jetzt nicht gut, ich bin eben ein Mensch, der voll die Gefühle hat und so." Wirklich, so ein Satz würde hier gar nicht auffallen.

Hans-Jochen Wagner und Eva Löbau im Ausnahmezustand

Rausch und Enthemmung lassen sich nun einmal unglaublich schwer spielen, und leider sind hier alle Beteiligten damit überfordert, nicht nur Andrei Viorel Tacu als David und Darja Mahotkin als Romy, der wir mal ihren dauerwunden Rehblick als bewusstes schauspielerisches Ausdrucksmittel auslegen wollen. Das Drehbuch (von Jan Eichberg und Regisseur Jan Bonny) verordnet auch Hans-Jochen Wagner als Kommissar Friedemann Berg und seiner Kollegin Eva Löbau als Franziska Tobler den Ausnahmezustand.

Betrunken torkeln sie durch die Straßen, werfen sich schnapsselige Blicke zu, und landen schließlich in Wagners Bett. Wagner geht damit so verkrampft um wie der stereotypische Spießer, der einmal am Jahr aus Versehen aus sich rausgegangen ist, nachdem auf der Faschingsparty Matthias Reim gespielt wurde (und es wird grundsätzlich Matthias Reim gespielt, immer "Verdammt ich lieb dich"). Das ist fast so unerträglich anzusehen wie Franziska Toblers betont lockeres "Jetzt-hab‘-dich-halt-net-so"-Getue.

Die Mumien-Szene hinterlässt Eindruck

Wenn man diesem Faschingsdesaster etwas zugutehalten kann, dann, dass es viele plausible Verdächtige mit Motiv gibt. Und eine starke Szene, wegen der man "Ich hab im Traum geweinet" seine prätentiöse Metapherndichte fast verzeihen könnte: Elena, die nach der Operation ganz in weißen Verband gewickelt im Krankenhausbett liegt, als Wagner und Tobler hereinkommen und ihr den Mord an ihrem Mann verkünden.

Wie die nach einem Fluch zum Leben erweckte Mumie erhebt sie sich da, und die restlichen Narren und Närrinnen können einpacken im Vergleich zu dem Schmerz und dem Schrecken, den diese Maskierte verkörpert.

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