Insel in Aufruhr: Eine Freundin lockt Thorsten Falke nach Norderney. Gemeinsam mit seiner Kollegin Julia Grosz soll er in einem Korruptionsskandal ermitteln. Aber viel spannender ist, wie seine alte Liebe die beiden Kommissare aufmischt. "Tödliche Flut" beeindruckt mit dramatischen Bildern und Orchestermusik, die extra für den Hamburger "Tatort" komponiert wurde.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Wer ein Heimtheater besitzt, es sich vielleicht wegen eines Lockdown-Kollers gerade eingerichtet hat, besitzt einen Vorteil. Denn dort sollte man sich diesen "Tatort" ansehen: Diese Bilder gehören auf eine große Leinwand und diese Musik verdient einen machtvollen Sound.

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Die Insel Norderney spielt eine Hauptrolle in "Tödliche Flut". Und wenn man weiß, dass die NDR Radiophilharmonie die Musik für diesen "Tatort" eingespielt hat, das ganze Orchester, dann kann man gar nicht anders, als auf diesen Soundtrack zu achten. Auf die perfekten Klänge für diese wüstenwilde Dünenlandschaft, dieses Meer im Wintergrau.

"Tatort" aus Hamburg: Neues Bauprojekt unter zweifelhaften Umständen genehmigt

Was man dann sieht und hört, ist eine bedrohliche Insel, auf der es nicht mit rechten Dingen zugeht. Imke Leopold ist nach Jahren in Hamburg zurückgekehrt auf die Insel ihrer Kindheit, in das Haus ihrer verstorbenen Großmutter. Und weil sie Investigativjournalistin mit Leib und Seele ist, hat sie sofort entdeckt, dass das neue Bauprojekt auf Norderney unter zweifelhaften Umständen genehmigt wurde: Korruption und Umweltzerstörung ist nur der Anfang der Probleme, die Imke sieht. Deshalb taucht sie bei ihrem alten Lover Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) in Hamburg auf und bittet ihn um Hilfe. Zu ihrer großen Enttäuschung verweist der Kommissar sie an die Abteilung Wirtschaftskriminalität und verabschiedet sich lieber schnell.

Aber so einfach lässt sich diese Frau nicht abspeisen. Ihre Intensität ist Imke Leopolds Problem, wie wir bald von verschiedenen Männern ihres Lebens erfahren werden - aber auch ihre Stärke. Und so dauert es nicht lang, bis Falke mit Kollegin Julia Grosz (Franziska Weisz) auf Norderney Verdächtige befragt: Mitten in der Nacht hat Imke Thorsten angerufen, sie wird bedroht, ein Mann in Motorradkluft schleicht durch ihren Garten und als die beiden Kommissare am nächsten Morgen Imke Leopolds Informationsquelle besuchen wollen, einen Makler, der den großen Baudeal eingefädelt hat, liegt er erschlagen im Keller seines Hauses.

Während ihrer Ermittlungen quartieren sich Falke und Grosz bei der Journalistin ein – zu Imkes Schutz, vor allem aber zu ihrer großen Begeisterung: Die reinste WG ist das in dem alten Inselhaus – und, so meint die Journalistin, eine Arbeitsgemeinschaft: Gemeinsam werden sie Norderney vor Gier und destruktiven Kräften retten! Imke versorgt die Kommissare nicht nur mit Wein und Braten vom selbst geschossenen Kaninchen, sondern vor allem mit Hintergrundinformationen, die sie als Journalistin und als Einheimische hat. Und sie begleitet Falke und Grosz ganz selbstverständlich auf Schritt und Tritt.

Kraftvolle Musik und schöne Bilder

Thorsten Falke lässt sich das gefallen, aber Julia Grosz wird das bald zu eng. Zu intensiv. Es wird verdächtig. Als Zuschauer fragt man sich auch irgendwann, wie viel von dem Drama sich womöglich nur in Imke Leopolds Kopf abspielt.

Und dann kann dieser "Tatort" unter der Regie von Lars Henning so richtig zeigen, was er hat. Nämlich diese Insel und diese Musik. Sie ist kraftvoll, ohne dass sie sich bombastisch in den Vordergrund drängen muss – so gut ist das, was Stefan Will und Peter Hinderthür extra für die Folge komponiert haben. Ihre Musik trägt diesen "Tatort", wie auch Wind oder Wellen das können: Sie ist da, aber nicht allgewaltig. Wie die Landschaft von Norderney, an der sich die Kamera (von Carol Burandt von Kameke) berauscht, ohne dass man es ihr übelnehmen kann.

Der klassische Fall von Korruption und Mord bleibt hier schnell auf der Strecke. Es wird viel Tee getrunken und natürlich gern am Meer spaziert. Als Krimi ist "Tödliche Flut" nicht wirklich spannend. Aber als eine unheimliche Ballade über Einsamkeit und Heimat (ohne dass man gleich Theodor Storms "Schimmelreiter" zitieren muss) erzählt er eine starke Geschichte. Von der verzweifelten Suche einer verlorenen Seele nach Verbundenheit und einem Zuhause.

Franziska Hartmann spielt Imke Leopold mit der unheimlichen Intensität, die in der Figur angelegt ist. Und wie Imke Leopolds Unbedingtheit und Stärke ihre Mitmenschen in den Bann zieht und gleichzeitig abstößt, wie sie nicht nur Thorsten Falke zu manipulieren versucht, sondern auch im Verhältnis zwischen Falke und Kollegin Grosz Unruhe stiftet, wie plötzlich das ganze menschliche Gefüge auf der Insel in Bewegung gerät wie Ebbe und Flut, das macht "Tödliche Flut" zu einer eindrucksvollen Psychostudie, die spannender ist als ein gewöhnlicher Krimi.

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