Ob Job, Urlaub, Wohnort, Partner: Die Generation um die 30 Jahre will sich alle Möglichkeiten offen halten. Psychiater, Psychotherapeut und Bestsellerautor Michael Winterhoff erklärt warum wir uns nicht festlegen wollen und wie wir leichter zu Entscheidungen finden.
Herr Winterhoff, kann oder will sich die "Generation Vielleicht" nicht festlegen?
Michael Winterhoff: Wir leben in einer Zeit in der permanent Entscheidungsprozesse gefordert werden: Nehme ich die runde oder die ovale Fleischwurst? Soll ich die blaue oder die weiße Zahnpasta kaufen? Den ganzen Tag haben wir die Möglichkeit aber auch die Anforderung Entscheidungen zu treffen.
Je mehr Entscheidungen man treffen muss, desto schwieriger wird es. Man hat ja ständig das Gefühl die falsche Entscheidung getroffen zu haben, wie etwa "Vielleicht hätte ich das Handy ja noch billiger haben können?" Den Menschen fehlt heute leider jegliche Intuition.
Warum haben wir denn kein Bauchgefühl mehr?
Durch die Verbreitung der digitalen Welt ruht der Mensch nicht mehr in sich. Um Entscheidungen zu treffen, muss man in sich ruhen. Wenn man sich an die analoge Zeit erinnert, und man hat jemanden nicht am Telefon erreicht, dann musste man ihm einen Brief schreiben. Punkt.
Wir sind heute ununterbrochen erreichbar und haben weder bei Pension noch bei Krankenkasse eine Sicherheit. Dazu kommt eine hohe Belastung durch die digitale Informationsflut. Wir leben in einem Zustand des Daueralarms. Es geht dem Menschen heute nur mehr darum, irgendwie zu überleben.
Das klingt ja sehr drastisch.
So ist es aber. Und es hat natürlich auch Auswirkungen auf die Kinder – die brauchen Erwachsene, die in sich ruhen und Entscheidungen treffen. Es geht darum, Kinder wie Kinder zu behandeln und nicht partnerschaftlich wie Erwachsene. Viele Jugendliche und junge Erwachsene haben heute die emotionale Intelligenz von Kleinkindern. Sie sind auf der Stufe von zehn bis 16 Monate alten Kindern – alles dreht sich um sie. Sie glauben, dass sie alles steuern und bestimmen können.
Wie wirken sich soziale Medien wie Facebook auf unser Leben aus?
Die Sozialen Netzwerke zeigen uns, dass nicht nur die Reichen und Schönen im Sinne des Königshauses das Glück gepachtet haben. Jeder kann in die Position kommen, einen tollen Urlaub zu machen, unverschämt glücklich zu sein oder toll auszusehen. Menschen wie du und ich. Das kann andere Menschen unglücklich machen.
Das Recht auf Glück gibt es nicht. Das Leben ist anders, als es uns vorgegaukelt wird. Da gehören Tod und Trauer genauso dazu. Der Generation, die heute um die 30 Jahre alt ist, hat es nie an etwas gefehlt. Aufgrund ihres behüteten Lebens ist sie nicht krisenerfahren. Deswegen hat sie auch so schreckliche Angst vor falschen Entscheidungen.
Sie haben mehrere Millionen Bücher verkauft, waren mit Ihrem Buch "SOS-Kinderseele" in den Bestsellerlisten: Haben Sie einen Expertentipp, wie man sich leichter entscheiden kann?
Es geht nicht darum, eine Entscheidungshilfe zu geben: Man muss Wege finden, um zu sich zu kommen. Eine Möglichkeit wäre etwa digitale Abstinenz. Oder man kann auch den Wald als Ruhepol wiederentdecken. Es ist wichtig, dass man runterkommt und entspannt, dann kann man auch wieder intuitiv die richtigen Entscheidungen treffen.
Ich gehe alle zwei bis drei Wochen für mehrere Stunden in den Wald. Man muss es so lange tun, bis man nichts mehr denkt – bis man sich selbst in seinen eigenen Grenzen spürt. Zu vielen Problemen gewinnt man dann Distanz und Gelassenheit.
Wann wird es zu einer Umkehr kommen, zu einem Ausbrechen aus dem Daueralarm?
Ich warte schon darauf (lacht). Ich fürchte es wird noch lange dauern. Der Mensch hält viel aus bis er an den Punkt kommt und sich selbst eingesteht, "OK, das ist nicht gut für mich."
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