Der Hypnotiseur, Wundermacher und Autor Jan Becker hat ein Buch über das Staunen geschrieben. Im Interview erklärt er, wie gemeinsames Staunen die Menschen wieder näher zusammenbringen könnte.
Jan Becker, Kinder staunen sehr oft. Warum haben viele Erwachsene anscheinend verlernt, zu staunen?
Jan Becker: Das ist tatsächlich sehr interessant. Es fühlt sich so an, als ob wir das Staunen über die Zeit hinweg verloren hätten. In einer Szene in meinem Buch beschreibe ich, wie ich mit meinen Kindern auf dem Weg zur Kita bin. Sie bleiben wirklich an jeder Pfütze stehen. Jeder einzelne Regenwurm ist für sie interessant. Da kann ein Gehweg von einer Viertelstunde auch gerne mal eine Stunde dauern.
Wir Erwachsenen hingegen sind oft zu sehr in unseren Gedanken gefangen und verlieren den Bezug zu dem, was uns tatsächlich umgibt. Wenn wir aber den Blick nach außen lenken und uns mit den Dingen beschäftigen, die uns gerade jetzt in diesem Moment wirklich umgeben, dann können wir aus eigentlich jedem Moment einen Staun-Moment machen. Dann kann plötzlich ein Blatt an einem Baum super interessant werden. Oder mir fällt ein Buch auf, das in meinem Regal steht und das ich schon lange nicht mehr gelesen habe. Das Problem ist, dass wir oft so zugeschüttet sind mit Fragen, die wir uns immer und immer wieder stellen - und deshalb nehmen wir die Außenwelt weniger wahr.
Kann man angesichts der aktuellen Weltlage überhaupt staunen?
Wir leben in einer Zeit, die von Krisen, Kriegen und Sorgen geprägt ist. Ist es schwierig, in solchen Zeiten zu staunen?
Absolut. Es prasseln ständig Nachrichten auf uns ein. Es ist Krieg in der Ukraine, es ist Krieg im Gazastreifen. Und das beschäftigt uns, obwohl es mit unserer eigentlichen Situation, in der wir uns jetzt gerade befinden, erst mal gar nichts zu tun hat. Es ist natürlich sehr wichtig, dass wir uns mit diesen Nachrichten beschäftigen. Aber die Beschäftigung mit diesen Krisen darf nicht ständig die Situation, in der wir uns tatsächlich gerade befinden, überschatten.
Mal angenommen, ich sitze im Urlaub am Strand und schaue gerade auf das Meer. Der Moment ist wunderschön. Dann kommt plötzlich die Meldung rein, dass Bomben auf Gaza fallen. Wenn ich mich dann zu sehr in diesem Gedanken verliere, wirkt das Meer auf mich nicht mehr so attraktiv und erstaunlich wie zuvor. Das Kunststück ist zu erkennen, was nach dieser Meldung in meiner Innenwelt passiert, was das emotional mit mir macht. Das ist der erste Schritt. Der zweite Schritt ist zu sagen: Stopp! Wo bin ich eigentlich gerade, was passiert tatsächlich in diesem Moment?
Als Magier, Hypnotiseur, Autor und Entertainer ist es Ihr Job, Menschen staunen zu lassen. Ist das aus Ihrer Sicht in den letzten Jahren schwieriger geworden?
Nein. Es ist gefühlt sogar einfacher. Ich glaube, das liegt daran, weil wir weniger staunen im Alltag und uns weniger erstaunliche Momente begegnen. Ich glaube aber, dass das Staunen ein Grundbedürfnis von uns allen ist. Das ist in uns Menschen angelegt. Es gibt sehr viele kluge Köpfe, die sich damit auseinandergesetzt haben. Durch Staunen und Neugier entsteht Innovation. Im Grunde genommen haben wir durch das Staunen Fortschritt geschaffen.
Ich habe das Gefühl, dass in unserer heutigen Gesellschaft die Menschen leichter zu erstaunen und zu überraschen sind, als es noch vor etwa zehn oder 15 Jahren der Fall war. Das ist tatsächlich sehr interessant zu beobachten. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich in meinen Shows für Staun-Momente sorge, die analog sind. Es passiert etwas Reales und nicht etwas Digitales. Wenn ich zum Beispiel auf einer Party bin und einen Kartentrick zeige, dann staunen die Leute. Und als Reaktion sagen sie oft: "Oh, krass, dass ich das jetzt mal live erleben kann. Wenn ich so einen Trick auf Instagram sehe, denke ich immer, dass das abgesprochen ist." Das zeigt mir, dass dieses analoge Staunen - wenn man es so nennen will – stärker geworden ist.
Wir leben eigentlich in einer Zeit der Wunder, wenn man an künstliche Intelligenz, die Aufnahmen des James-Webb-Teleskops aus fernen Galaxien oder an die Fortschritte in der Medizin denkt. Liegt es an der Reizüberflutung, dass dies vielleicht gar nicht so wahrgenommen wird?
Das könnte sein. Vielleicht ist es aber auch das Wort "nur". Dieses Wort "nur" begegnet mir wieder, man kann sich damit relativ schnell abgrenzen. Wenn über die Internationale Raumstation ISS berichtet wird, die im Weltraum rumschwebt, ist das für uns schon normal geworden. Das ist dann "nur" eine Raumstation. Oder nehmen wir das Handy, das sich ständig in unserer Hand verwandelt. Mal ist es ein Telefon, mal ein Fotoapparat, dann ist es plötzlich ein Taschenrechner. Aber im Endeffekt ist es für uns ja "nur" das Handy. Aus einem Wunder wird durch die ständige Wiederholung irgendwann Normalität.
Sie beschreiben das Staunen als eine Emotion, die Menschen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Schichten verbinden kann. Wie funktioniert das?
Ich erlebe das während meiner Vorführungen oder in meinen Seminaren. Die Menschen kommen fraktioniert an, jeder kommt für sich oder vielleicht als Paar. Und dann erleben wir etwas, was wir uns erst mal nicht erklären können und was uns zum Staunen bringt. Und das nullt unseren Status. In diesem Moment haben alle den gleichen Status und versuchen, Kontakt aufzunehmen zu den anderen, denen es genauso geht. Man verbündet sich, man tauscht sich aus und der Status spielt überhaupt keine Rolle mehr. Das ist das Spannende, was durch Staunen möglich wird – es führt zu einer Gemeinschaft.
Und gleichzeitig können durch die Fragen, die man sich dann stellt, Innovationen oder neue Ideen entstehen. Die Frage ist, wie man mit diesem Moment weiter umgeht. Der eine sagt vielleicht: "Ich nehme das jetzt einfach so hin, ich will einfach nur staunen." Jemand anderes sagt: "Wir müssen doch wissen, wie das funktioniert." Dann findet man eine Mitte, was Menschen enorm miteinander verbindet.
Gemeinsames Staunen, sich auf die Wunder der Welt einzulassen, könnte Ihrer Meinung nach also ein Mittel gegen die gesellschaftliche Spaltung sein?
Absolut! Ich gehe fest davon aus. Wenn wir das hinbekommen könnten, würden wir in einer entspannteren Welt leben. Die Fraktionierung unserer Gesellschaften ist das größte Problem, das wir aktuell haben. Wir bauen immer mehr Wände auf: Wir gegen die. Vielleicht sollten wir alle mal einen Schritt zurückgehen und überlegen, wo wir gerade sind. Wir sitzen auf einem großen, runden Ball, der frei im Universum schwebt. Jeden Morgen geht ein Feuerball auf. Wenn wir uns dieses Wunder mal bewusst machen und in unser Glaubenssystem reinlassen, dann wird es schwierig, Leben zu vernichten oder Dinge kaputtzumachen.
Staunen soll gut für die Gesundheit sein
Staunen soll entzündungshemmend wirken, Stress und Depressionen mindern. Was passiert im Körper, wenn ein Mensch staunt?
Das hat mich tatsächlich auch enorm überrascht, das wusste ich auch nicht. Ich habe immer nur die Leute staunen sehen, danach sind sie glücklich nach Hause gegangen. Das ist tatsächlich ein psychologischer und gleichzeitig chemischer Moment. Beim Staunen wird das Belohnungssystem in unserem Körper aktiviert, wodurch diverse chemische Ausschüttungen über das Rückenmark in alle möglichen Bereiche unseres Körpers verteilt werden. Diese chemischen Ausschüttungen wirken entspannend und machen uns glücklich. Man sieht oft, dass Menschen lachen, nachdem sie gestaunt haben. Die Leute grinsen wie ein Honigkuchenpferd. Dafür sind diese körperinternen Prozesse verantwortlich.
Was hat Sie dazu gebracht, sich so intensiv mit dem Thema Staunen auseinanderzusetzen?
Ich habe schon als Kind angefangen, mit dem Zauberkasten Zaubertricks zu üben. Noch im Kindesalter kam dann das Thema Hypnose dazu. Ich habe immer vor Menschen performt, ob Hypnose, Zauberkunst oder Gedankenlesen. Ich hatte immer Leute vor mir, die gestaunt haben. Irgendwann ist mir dann klar geworden, dass das der Kern dessen ist, was ich mache. Es ist gar nicht so sehr die Hypnose oder die Magie, es sind die Menschen, die ich zum Staunen bringe. Dann wollte ich natürlich wissen, was mit meinem Gegenüber passiert. Was mich wiederum zum Staunen gebracht hat. So habe ich mich auf die Reise begeben.
Sie berichten auch von einer kürzlich erlebten Phase innerer Leere, nach der Sie sich zunächst zurückgezogen und dann transformiert haben. Was ist passiert?
Es war tatsächlich eine Überforderung, mein ganzes System hat "Stopp!" gesagt. Ich bin auf der Intensivstation gelandet. Nach einer Show hatte ich Probleme mit der Bauchspeicheldrüse. Ein Stein hatte sich aus der Gallenblase gelöst und vor die Bauchspeicheldrüse gesetzt, die dann fast verdaut wurde. Das war so ein Stoppmoment, an dem ich mich selbst reflektieren musste. Dabei wurde mir klar, dass das stetige Streben nach mehr, nach immer größer, immer weiter, plötzlich zur Verbrennung führt. Du löst dich auf. Es geht gar nicht mehr so sehr um den Inhalt, den du vermitteln willst. Sondern es geht im Endeffekt nur noch darum, wie man noch mehr Materielles bekommt.
Dem Tode so nahe zu sein, hat bei mir zu der Erkenntnis geführt, dass eigentlich nur das Hier und Jetzt wichtig ist. Der Moment, den wir jetzt gerade erleben, ist immer der wichtigste Moment. Und man muss das Leben mit Momenten füllen, die einen wirklich erfüllen. Nur das führt dazu, dass man das Leben wirklich genießen kann. Alles andere lenkt nur ab und verbrennt dich innerlich. Das war meine Erkenntnis.
Und diese Erkenntnis hat Ihnen geholfen, diese Phase zu überwinden?
Absolut. Ich hab meine Frau damals einem Impuls folgend gebeten, ein Kartenspiel mit ins Krankenhaus zu bringen, damit ich Kartentricks üben kann. Das hatte ich jahrelang nicht mehr gemacht. Die Beschäftigung mit ganz normalen Kartentricks hat mir dann geholfen, wieder zu mir selbst zu finden. Diese Leidenschaft wurde wieder in mir ausgelöst. Kartentricks waren meine Ur-Leidenschaft, davon hatte ich mich immer weiter entfernt. Das hat mir enorm geholfen, aus dieser Situation wieder rauszukommen.
Zum Abschuss: Was hat Sie zuletzt staunen lassen?
Ich habe mich kürzlich mit Freunden in einer Weinbar getroffen. Dann werde ich natürlich immer gefragt, ob ich etwas zeigen kann. Eine Frau, die mir gegenüber saß, meinte, sie könnte auch einen Trick zeigen. Sie hat ein Kunststück vorgeführt, das sie von ihrem Opa gelernt hat. Ich kannte das Kunststück nicht und es hat mich wirklich sehr beeindruckt. Das war mein aktuellster Staun-Moment.
Über den Gesprächspartner
- Jan Becker ist Hypnotiseur, Wundermacher und Autor mehrerer Bestseller-Bücher. Bekannt wurde der Becker 2009 als Gewinner der ProSieben-Show "The next Uri Geller – Unglaubliche Phänomene Live". Neben Live-Shows in seinem Atelier “Geist” in Berlin bietet er auch Seminare für Hypnose, Performance und Resonanz sowie Coachings an.
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