"Unser neuer Chef – Jetzt entscheiden wir!" So heißt die neue Doku-Soap von Kabel 1. Wichtig ist vor allem das Ausrufezeichen nach dem "wir", denn es soll zeigen, dass endlich einmal die Mitarbeiter etwas zu sagen haben. Bei "Unser neuer Chef" wählt die Belegschaft nämlich ihren Boss selbst. Gestern Abend lief die Auftaktfolge.

Christian Vock
Eine Kritik
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Ungerecht, launisch, inkompetent – wenn Angestellte über ihre Vorgesetzten reden, kann man manchmal meinen, dass nicht die Besten Chef werden, sondern allenfalls die Lautesten.

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Fairnesshalber muss man erwähnen, dass Chefs sicher auch nicht jeden Angestellten zum Mitarbeiter des Monats wählen würden.

In genau diese Die-da-oben-wir-hier-unten-Lücke stößt seit gestern Abend Kabel 1 mit seiner neuen Doku-Soap "Unser neuer Chef – Jetzt entscheiden wir!".

Ausgangspunkt ist dabei die Frage: Was wäre, wenn man sich seinen Chef selbst aussuchen könnte?

In den USA ist dieser Ansatz schon länger bekannt. Beim "Collaborative Hiring" wird eine freie Führungsstelle nicht einfach von der Personalabteilung oder dem Firmenchef besetzt. Stattdessen werden die Mitarbeiter in die Entscheidung einbezogen.

"Unser neuer Chef": Wie entscheiden die Mitarbeiter?

Nun sind solche Trends nichts Neues. Seit es Arbeit gibt, gibt es pfiffige Köpfe, die diese noch verbessern wollen. Diesem Umstand verdanken wir zum Beispiel "flache Hierarchien", Großraumbüros, Assessment-Center oder den Snack-Bär.

Beim "Collaborative Hiring" erhofft man sich zum einen weniger schlechte Entscheidungen bei der Besetzung von Führungskräften und zum anderen positive Effekte auf die Belegschaft, weil die sich ernst genommen und einbezogen fühlt. Bei "Unser neuer Chef" ist aber erst einmal nur das neue Bewerbungskonzept von Bedeutung.

In der Tat wirft so ein Vorgehen interessante Fragen auf: Wen wählen die Mitarbeiter, den Netten oder den Kompetenten? Wie reagiert der Bewerber auf die umgekehrte Rollenverteilung? Entscheidet die Belegschaft besser als der Firmenchef? Und im Fall von "Unser neuer Chef": Würde man als Zuschauer genauso entscheiden wie die Mitarbeiter?

Bis der Chefsessel bei "Unser neuer Chef" besetzt ist, treten erst einmal drei Kandidaten zur Wahl an. Eine Woche lang müssen sie im Betrieb mitarbeiten. Was sie nicht wissen: Dass sie dabei gefilmt werden, dient nicht, wie behauptet, einer Reportage, sondern einzig dem Zweck, die Mitarbeiter dabei zusehen zu lassen.

"Da hätte ich auf jeden Fall verkackt"

In der gestrigen Auftaktfolge wird ein neuer Bezirksleiter der Familien-Bäckerei "der Brotmacher" gesucht, der zehn Filialen und 50 Mitarbeiter führen soll. Wie der Teufel so will, sind die drei Kandidaten so herrlich unterschiedlich, dass der Zuschauer leicht seine Sympathien verschenken kann.

Da ist die überperformende Jessica, der strenge Karim und der großväterliche Konrad. Jeder Kandidat geht mit seiner kleinen Geschichte ins Rennen, das ihn über die Produktion zur Produktpräsentation und schlussendlich zum Verkauf der Backwaren führt. So lernen die Bewerber das Unternehmen und das Unternehmen die Bewerber kennen, denn die Mitarbeiter können jeden Schritt an einem Monitor verfolgen.

Kernstück der Soap sind die vielen zum Teil widersprüchlichen Einschätzungen der Mitarbeiter, wenn sie live über die Bewerber urteilen. Wenn beispielsweise der strenge Karim über Abmahnmöglichkeiten spricht, falls eine Kassiererin die Kasse zu oft offenlässt. Da entfährt es einer dieser Kassiererinnen: "Da hätte ich auf jeden Fall verkackt."

Da wird es menschlich, da kann der Zuschauer zuhause mitentscheiden, welcher der Kandidaten am besten geeignet ist und, machen wir uns nichts vor, wer am sympathischsten ist. Gelenkt vom Off-Sprecher, der die Situationen für den Zuschauer bewertet, darf man dann mal von der Couch aus Personalchef spielen.

Jessica ist "Unser neuer Chef"

Kabel 1 macht aus einem Recruiting-Trend ein typisches Format-Fernsehen mit dem üblichen Erzählschema, dem obligatorischen Off-Sprecher, dramaturgischen Kniffen und natürlich ganz viel Menschelei. Das ist nicht zwei Stunden lang spannend, den besonderen Reiz, der in der ungewöhnlichen Entscheidungssituation liegt, fängt "Unser neuer Chef" aber ganz gut ein.

Am Ende gewinnt mit einer Stimme Vorsprung die 26-jährige Jessica. Ob "Collaborative Hiring" nun eine erfolgreiche Alternative zur klassischen Personalsuche ist, diese Frage beantwortet "Unser neuer Chef" aber nicht. Daher kann es auch nur ein Zufall sein, dass der Brotmacher zur Stunde wieder einen neuen Bezirksleiter sucht.

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