• Netflix setzt immer mehr Serien schon nach ein oder zwei Staffeln ab.
  • Die Gründe sind vielfältig: Von Corona über "kreative Differenzen" bis zu geplatzten Vertragsverhandlungen.

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Es ist schon lange kein ungewöhnliches Szenario mehr: Man stößt beim gelangweilten Scrollen durch die Netflix-Mediathek auf eine ansprechende Serienvorschau und gibt der ersten Folge, noch ein wenig verhalten, eine Chance. Nach einem Serien-Marathon zahlreiche Episoden später ist man dem Charme von Plot, Setting und Figuren verfallen. Der Cliffhanger am Ende nervt, doch zum Glück wird alles in ein, zwei Jahren mit der nächsten Staffel aufgelöst – sollte man meinen.

Stattdessen folgt immer häufiger: Serie abgesetzt. Fans fühlen sich im Regen stehen gelassen – wie mittendrin aus der Vorstellung gezerrt. In den letzten sieben Jahre wurden 60 Netflix-Serien abgesetzt. 23 davon alleine im Jahr 2020 – darunter "Chilling Adventures of Sabrina" oder "Altered Carbon".

Natürlich: Es ist das Jahr der Pandemie. Während Streamingdienste den Lockdown auf den heimischen Bildschirmen ein Stück weit erträglicher machen, stehen die Produktionen dahinter auf wackeligen Beinen. Eine Filmcrew ist groß: Make-Up Artists, Kostümdesignerinnen und -designer, Kamera- und Tonmänner/-frauen, Schauspielerinnen und Schauspieler und viele mehr stehen am Set in ständiger Interaktion.

Da verwundert es wenig, wenn die eigentlich schon angekündigte finale Staffel von "G.L.O.W.", welche vom schwitzig intimen, ergo kontaktreichen Frauenwrestling handelt, doch noch abgesagt werden musste. Vor allem haben die COVID-19-Regeln aber finanzielle Auswirkungen, wie CNBC berichtet: Nicht nur mussten Anfang des Jahres – trotz laufender Kosten – sämtliche Produktionen für eine Weile pausieren, auch kosten die erhöhten Hygienemaßnahmen seit der allmählichen Rückkehr zum Dreh schlichtweg mehr.

67 Prozent gehen in die Verlängerung

Mehr denn je gilt: Zahlen entscheiden. Wenn die Zuschauerzahlen nicht stimmen, wird der Stecker gezogen. Und Netflix weiß dank ausgefeilter Statistiken genau Bescheid: Einmal nach sieben Tagen und einmal nach 28 Tagen wird zusammengetragen, wie viele Zuschauer eine Serie angefangen und vor allem auch tatsächlich zu Ende gesehen haben. Da wird eine unbeliebte Show wie "Teenage Bounty Hunters" über zwei Teenager-Kopfgeldjäger mal eben zwei Monate nach der Veröffentlichung abgesetzt.

Auch Netflix‘ TV-Chefin Bela Bajaria hat sich bereits zur anhaltenden Kritik über die zahlreichen Absetzungen geäußert, wie Deadline berichtet: "Schaut man sich die zweiten Staffeln und weitere an, haben wir eigentlich eine Verlängerungsrate von 67 Prozent, was dem Industrie-Standard entspricht."

Verschwiegen wird hierbei jedoch, dass dem Streamingdienst eine zweite Staffel noch verhältnismäßig billig kommt, denn die Verträge mit dem Personal haben eine erste Fortsetzung zumeist ohnehin von vornherein mit gleichbleibendem Gehalt abgedeckt. Erst ab der dritten Staffel muss mit Darstellern und Autoren neu verhandelt werden – und die dann mittlerweile für die Show unentbehrlichen Stars verlangen den entsprechenden Aufschlag.

Weil mit höheren Kosten aber nicht auch gleich mehr Zuschauerzahlen einhergehen, ist es häufig schlicht rentabler, das Geld wiederum in eine neue Serie anstelle der dritten Staffel einer bereits bestehenden zu stecken. Nur echte Hit-Shows mit stetig ansteigender Zuschauerzahl können diesen Kreislauf durchbrechen.

90-Stunden-Arbeitswoche

Auch die in höchsten Tönen gelobte Serie "Mindhunter", über die Profilerstellung von Serienmördern in den 80er Jahren, teilt seit kurzem das Schicksal der nur zwei-Staffel-langen Lebensspanne. Produzent und Regielegende David Fincher gab zwar ebenso die zu niedrigen Zuschauerzahlen und zu hohen Produktionskosten als Teilgrund für die Einstellung an – doch geht es weit darüber hinaus, wie er in einem Interview verriet: "es ist […] eine 90-Stunden-Arbeitswoche. Es frisst alles in deinem Leben. Als wir [mit der zweiten Staffel] fertig waren, war ich ziemlich am Ende. Und ich sagte mir: 'Ich weiß nicht, ob ich es gerade in mir habe, eine dritte Staffel anzufangen.'"

Fühlt sich Fincher, erfahrener Regisseur von Filmen wie "Sieben" (1995) und "Gone Girl" (2014), vom Serienbusiness ausgelaugt? Im Grunde wäre es wenig verwunderlich: Der hohe Qualitätsanspruch fordert von den Machern mittlerweile quasi einen zehnstündigen Spielfilm – und das innerhalb derselben Produktionszeit von ein bis zwei Jahren wie ein bloß zweistündiger Kinofilm.

Zwar hat Fincher eine Wiederaufnahme der Geschichte in ferner Zukunft nicht vollends abgeschrieben, doch widmet er sich in absehbarer Zeit lieber anderen Projekten: Am 4. Dezember erschien beispielsweise sein neuestes Werk "Mank" (2020) – direkt auf Netflix, da er mit dem Streaming-Anbieter einen exklusiven 4-Jahres-Deal abgeschlossen hat. Dass er sich in diesem Zeitraum aber auch wieder als federführender Showrunner für eine neue Serie begeistern könnte, scheint nach genanntem Debakel unwahrscheinlich.

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Vom Serienretter zum Serienkiller

Auch die wachsende Konkurrenz zu anderen Streaminganbietern trägt zur Entwicklung bei. Das Serienaus von "Luke Cage" wurde offiziell damit begründet, dass sich Netflix mit Marvel, dem Rechteinhaber der Figur, nicht über Skriptinhalte und Episodenanzahl der angepeilten dritten Staffel einig wurde.

Als Netflix kurze Zeit später auch noch sämtliche weitere Marvel-Serien, nämlich "Iron Fist", "Jessica Jones", "The Punisher" und "Daredevil", einstellte, wurde allerdings klar, dass mehr dahintersteckt. Laut "Hollywood Reporter" wollte Disney, das Mutterunternehmen von Marvel, im Zuge ihres neu angekündigten Streamingdienstes Disney+ keine externen Produktionen mehr. Und auch für Netflix ist es lukrativer, eigene Figuren und Marken aufzubauen, für die sie keine Abgaben an dritte Rechteinhaber leisten müssen.

Wieder einmal führt die Spur also zu den Dollarnoten. Dabei hatte gerade Netflix über lange Zeit hinweg eine Reputation als Anlaufstelle für kompromisslose Nischenprogramme, die Kunst im Mittelpunkt: "Orange is The New Black" fokussierte sich beispielsweise auf eine Vielzahl starker, diverser Frauenfiguren – ohne Scheu vor knallharten Darstellungen schwieriger Themen wie Rassismus und Sexualität im Gefängnisalltag. Und eine Serie wie "Master of None" überflügelte bekannte Klischees indischstämmiger Amerikaner mit einer detaillierten Darstellung der Kultur.

Ursprünglich machte der Streamingdienst sich als "Serienretter" einen Namen: Unter anderem brachte man die, von 20th Century Fox abgesetzte, Comedy-Kultserie "Arrested Development" für eine vierte Staffel zurück – oder verlängerte die Fox-Serie "Lucifer" um satte drei Staffeln. Das ist nicht nur immer seltener der Fall, ganz im Gegenteil: Die Netflix-Verträge verbieten sogar die Übernahme der eigens abgesetzten Serien durch andere Sender oder Streamingdienste für fünf bis sieben Jahre.

Verwendete Quellen:

  • kino.de: Abgesetzt auf Netflix (2020): Diese Serien gehen nicht weiter
  • CNBC: How movie industry execs see sets changing as filming resumes during coronavirus pandemic
  • tz: Ende nach der 1. oder 2. Staffel: Darum haben Netflix-Serien oft kein langes Leben
  • Deadline: Netflix Reveals Data Around Show Cancellations As Bela Bajaria & Ted Sarandos Discuss New Strategy
  • stern: Nach zwei Staffeln ist bei Netflix oft Schluss - das steckt dahinter
  • serienjunkies.de: Mindhunter: David Fincher glaubt nicht an Staffel 3
  • The Hollywood Reporter: 'Daredevil' Canceled at Netflix as Marvel Roster Shrinks to Two
  • Hollywood Insider: Cancelled Shows: So Why is Netflix Cancelling their TV Shows Much Quicker Now?
  • Chip: Die Wahrheit über Netflix: Warum Serien schnell wieder eingestellt werden
  • Reddit: Anyone else sick of netflix canceling
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