Im Wettstreit um Fachkräfte können günstige Wohnungen Unternehmen den entscheidenden Pluspunkt verschaffen. Doch wie viele setzen tatsächlich auf Werkswohnungen als Standortvorteil? Unsere Redaktion hat bei 20 deutschen Großkonzernen nachgefragt.
Es klingt wie ein Konzept aus längst vergangenen Tagen: Werkswohnungen. Weil Wohnraum Mangelware war und zugleich der Bedarf an Arbeitskräften groß, schufen private Unternehmer vor allem ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis weit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eigene Wohnungen für ihre Mitarbeiter.
Viele dieser Wohnanlagen prägen Stadtteile bis heute, wie Berlin-Siemensstadt, die Essener Siedlung Alfredshof (benannt nach Krupp-Gründer Alfred Krupp) oder die Ludwigshafener BASF-Kolonie. Vielfach sind die Häuser denkmalgeschützt - das zeigt, wie lange ihr Bau bereits zurückliegt.
Aber auch heute ist Wohnraum – gerade in den Boomregionen – wieder knapp und teuer, die Industrie sucht ebenso händeringend nach Fachkräften. Günstige Wohnungen wären also durchaus ein Argument für oder gegen einen Wechsel zu einem Unternehmen – doch sehen das die Konzerne selbst auch so? Kommt es zu einer Renaissance von Werkswohnungen?
Studie zeigt starken Anstieg der Anzahl von Werkswohnungen
Zumindest laut einer aktuellen Studie würden Unternehmen immer öfter mit Werkswohnungen um neue Mitarbeiter werben. Von einzelnen Fallbeispielen, auf die man zufällig stoße, sei man inzwischen weit entfernt, sagte Arnt von Bodelschwingh, Geschäftsführer des Forschungs- und Beratungsinstituts Regiokontext, bei der Vorstellung der Studie Mitte Februar. "Wir merken einen starken Anstieg der Zahlen vor allem in den letzten zwei Jahren."
Allein im vergangenen Jahr habe Regiokontext schätzungsweise mindestens 60 neue Projekte in seine Datenbank aufgenommen. "Es gibt eine gewisse Orientierung hin zu den industriellen Schwerpunkten und Zentren", erklärte von Bodelschwingh. "Da, wo große Arbeitgeber sitzen, dort wo 'hidden Champions' sitzen, da finden wir das Thema verstärkt, aber es ist ein bundesweites Thema."
Nachfrage bei 20 Großkonzernen
Sehen das Deutschlands Großkonzerne auch so? Unsere Redaktion hat bei 20 der größten deutschen Privatunternehmen nachgefragt, von A wie Aldi bis V wie Volkswagen. Insgesamt beschäftigen diese Konzerne deutschlandweit fast 2,5 Millionen Menschen. Die Hälfte der Unternehmen antwortete auf unsere Anfrage.
Dabei zeigt sich ein klares Bild: Die meisten der kontaktierten Unternehmen besitzen keine Werkswohnungen (mehr), auch der Bau oder der Erwerb von neuen Wohnungen ist vielerorts nicht geplant – es gibt allerdings Ausnahmen:
- Die Schwarz-Gruppe, Muttergesellschaft der Supermarktketten Lidl und Kaufland, hat Anfang 2020 mit dem Bau von etwa 400 Wohnungen für Mitarbeiter und Studenten in Heilbronn begonnen. Mit der Fertigstellung werde Ende 2022 gerechnet.
- Insbesondere besitzt aber Volkswagen nach wie vor eine große Anzahl an Werkswohnungen. "Unser Bestand umfasst circa 9.300 Mietwohnungen am Konzernhauptsitz in Wolfsburg", teilte ein VW-Sprecher schriftlich mit. Der Autobauer plane zudem hunderte weitere Wohnungen: Bereits 2012 habe man mit einem eigenen Wohnungsneubauprogramm begonnen, bis spätestens 2023 sollen über 550 neue Mietwohnungen entstehen. "Wir sind überzeugt", schreibt der Konzernsprecher, "dass passgenaue Wohnraumangebote in Zeiten von angespannten Wohnungsmärkten ein geeignetes Instrument zur Steigerung der Arbeitgeberattraktivität sein kann, um Fach- und Führungskräfte zu gewinnen."
Diese Sicht wird allerdings von keinem der anderen angefragten Großunternehmen geteilt:
- BMW plant derzeit laut eigener Aussage weder den Bau noch den Erwerb von Werkswohnungen: "Die Ansprüche und Anforderungen unserer Mitarbeiter sind zu unterschiedlich, um sie alle bedienen zu können." Der Münchner Autohersteller unterhält zwar keine Mitarbeiterwohnungen, er bietet seinen Angestellten aber 800 Apartmentzimmer an, die bis zu sechs Monate lang zur Überbrückung gemietet werden können.
- Ebenso wenig spielen bei Deutschlands größtem Stahlhersteller Thyssenkrupp Werkswohnungen eine größere Rolle. Der Industriekonzern besitzt nur wenige Wohnungen, in denen Mitarbeitende untergebracht sind. "Für die Gewinnung von Fach- und Führungskräften spielt ein solches Angebot keine Rolle, wir werden auch nicht danach gefragt", erklärt ein Unternehmenssprecher.
- Auch bei Siemens habe man festgestellt, "dass die Nachfrage nach Werkswohnungen insbesondere bei Mitarbeitern aus dem Forschungs- und Verwaltungsbereich rückläufig ist und das individuelles Wohnen bevorzugt wird".
- Weder Aldi-Nord, Aldi-Süd noch Daimler verfügen derzeit über Werkswohnungen noch gibt es diesbezüglich Planungen.
Die Deutsche Bahn geht derzeit einen Zwischenweg. Einerseits baue das Unternehmen seinen Bestand an möblierten Apartments für zeitlich begrenztes Wohnen aus, wie eine Bahnsprecherin mitteilte. Andererseits habe die Bahn aktuell in einem Pilotprojekt 74 Wohnungen in München für Mitarbeiter unter Vertrag.
Wenn der Test erfolgreich laufe, werde geprüft, ob auch an anderen Standorten dieses Modell verfolgt wird, erklärte die Sprecherin.
Einst gab es bundesweit 450.000 Werkswohnungen
Eine Rückkehr zu Mitarbeiterwohnungen im großen Stil sehen auch die Studienautoren nicht. "Von den einst 450.000 Werkswohnungen gibt es heute nur noch einen Restbestand", sagte der Geschäftsführer des Deutschen Mieterbunds, Ulrich Ropertz.
"Die Unternehmen haben Wohnungen verkauft, sie wollten sich auf ihre Kernaufgaben beschränken." Sie seien dabei auch dem allgemeinen Trend der Zeit gefolgt.
Dazu gehört Siemens. Das Unternehmen veräußerte seine letzten Werkswohnungen im Frühjahr 2009. Oder Bayer. Der Chemie- und Pharmaziekonzern hat im Jahr 2002 den Großteil seines Bestands an Werkswohnungen – etwa 9.500 Wohnungen – verkauft. Nur in der Nähe des Chemparks in Leverkusen "wurde ein kleinerer Restbestand von einigen wenigen hundert Wohneinheiten im Portfolio gehalten, um Betriebs-, Bereitschafts- und Aufsichtspersonal des Chemparks wohnlich versorgen zu können", teilte der Konzern unserer Redaktion mit.
Werkswohnungen auf dem Land
Potenzial gebe es jedoch nicht nur in den Metropolen. Auch auf dem Land könnten Werkswohnungen als Instrument dienen, junge Fachkräfte anzuziehen, bemerkte von Bodelschwingh vom Forschungs- und Beratungsinstituts Regiokontext.
Ein Beispiel: Im ostwestfälischen Espelkamp entwickelt eine örtliche Aufbaugemeinschaft für Firmen entsprechende Projekte. In einer Umfrage im vergangenen Jahr bei unter 30-jährigen Beschäftigten, die dort arbeiten, aber woanders leben, gaben nur 14 Prozent an, sich einen Umzug nach Espelkamp vorstellen zu können. Der Anteil stieg auf 34 Prozent unter der Bedingung eines guten Wohnungsangebots.
Zu den Ansprüchen gehöre allerdings auch "das Rundum-Sorglospaket", sagte Kundenmanager Alexander Lang: Kostenloses W-Lan etwa, oder die im Preis inbegriffene Reinigung mindestens des Treppenhauses. Auch Mitarbeitern in den Städten dürfte das gefallen.
Wem gehört die Stadt? Die Bürgerrecherche
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