Ob Digitalisierung, Klimawandel oder Mobilität: Die Wirtschaft steckt im Umbruch. Das beschert auch den Gewerkschaften neue Aufgaben – und zum Teil sogar steigende Mitgliederzahlen.

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Vor 20 Jahren suchte Bernd Riexinger in einem Beitrag für die Rosa-Luxemburg-Stiftung noch "Auswege aus der Krise der Gewerkschaften". Der "Trend nach unten" sei ungebrochen, schrieb Riexinger, inzwischen Co-Vorsitzender der Linkspartei, im Jahr 2000. Seit der deutschen Einheit hatten die Gewerkschaften damals mehr als drei Millionen Mitglieder verloren.

Und heute? 2018 waren 5,97 Millionen Menschen in Deutschland Mitglied in einer der acht Gewerkschaften, die dem Deutschen Gewerkschaftsbund angehören. Zehn Jahre zuvor hatte die Zahl noch bei 6,37 Millionen gelegen. Die Mitgliederzahl sinkt also weiterhin – allerdings nur noch langsam.

"Comeback" der Gewerkschaften

Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft stellte schon 2015 ein "Comeback" der Gewerkschaften fest, da der Anteil der Mitglieder an allen Beschäftigten seit 2006 wieder zunehme. Und Frank Werneke, Vorsitzender der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, ist überzeugt: "Wir sind so attraktiv wie schon lange nicht mehr."

"Es gibt mehr Mut und Bereitschaft, sich zu engagieren – auch in Bereichen, in denen das früher schwierig war", sagt Werneke im Gespräch mit unserer Redaktion. Im Gesundheitssektor in Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern verzeichne ver.di etwa Zuwächse.

In den vergangenen Jahren ist die Mitgliederzahl zwar knapp unter die Zwei-Millionen-Marke gefallen – der Grund dafür sind Werneke zufolge aber in erster Linie Sterbefälle. "Im letzten Jahr haben wir 126.000 neue Mitglieder verzeichnet. Und wir wachsen in strategisch wichtigen Bereichen. Zum Beispiel bei den Beschäftigten im Verkehrssektor, in der Luftfahrt, im Gesundheitswesen und in Forschungseinrichtungen."

Die IG Metall – mit fast 2,3 Millionen Mitgliedern die größte Einzelgewerkschaft der Welt – verzeichnet sogar seit 2011 ein regelmäßiges Wachstum. Sie ist aber auch wie kaum eine andere Arbeitnehmervertretung von den Umbrüchen in der Wirtschaft betroffen.

Im Zuge des digitalen Wandels zum Beispiel könnten Computer in Zukunft Jobs übernehmen, die bisher noch Menschen ausgeführt haben. Für Roman Zitzelsberger lautet die wichtigste Frage in diesem Zusammenhang: Wie können Beschäftigte so schnell wie möglich weitergebildet werden?

Welche Rolle spielt der Klimawandel?

Der Leiter des mächtigen IG-Metall-Landesbezirks Baden-Württemberg fordert eine "digitale Alphabetisierungskampagne": "Es fehlt vielen Beschäftigten weiterhin an Basiswissen." Fort- und Weiterbildungen einzufordern, wird daher in Zukunft eine noch wichtigere Aufgabe der Gewerkschaften sein. Für ver.di-Chef Werneke ist besonders wichtig, dass sie nicht erst dann ansetzen, wenn ein Betroffener bereits arbeitslos ist – sondern schon vorher.

Auch das große gesellschaftliche Thema Klimawandel beschäftige die IG-Metall-Mitglieder, sagt Roman Zitzelsberger. Für seinen Bezirk gilt das in besonderem Maße, denn die Autoindustrie spielt für die Wirtschaft im Südwesten eine große Rolle. Der Ruf nach neuen Formen der Mobilität sorge deshalb gerade bei deren Beschäftigten für Verunsicherung.

"Für uns ist aber auch klar: Wir wollen, dass die Industrie sich ökologisch-nachhaltig umstellt", sagt Zitzelsberger. "Dieser Wandel muss einhergehen mit der sozialen Absicherung der Beschäftigung. Und wir müssen die Transformation gemeinsam mit den Beschäftigten gestalten."

Wenn es für die Gewerkschaften so kommt, wie sie es hoffen, ergeben sich aus diesen Entwicklungen also auch neue Gestaltungsmöglichkeiten – aber eben nur, wenn die Beschäftigten in Umwandlungsprozesse einbezogen werden.

Kritik an "Billigheimern" bei Aufträgen des Bundes

Es mangelt nicht an Herausforderungen für Arbeitnehmerverbände. Vor allem für viele junge Menschen sind Selbstständigkeit oder ein Job bei einem Start-up inzwischen attraktiver als eine feste Anstellung.

Die Macht der Gewerkschaften beruht zudem auf dem Recht, mit Arbeitgebern Tarifverträge auszuhandeln. Doch Zahlen der Hans-Böckler-Stiftung zeigen, dass die Tarifbindung weiter bröckelt: 1998 arbeiteten 73,6 Prozent der Beschäftigten in Deutschland bei einem tarifgebundenen Unternehmen, 2018 waren es nur noch 55 Prozent.

Die Gewerkschaften nehmen bei dem Thema auch die Politik in den Blick. "Für uns ist es ein Ärgernis, wenn öffentliche Ausschreibungen von Billigheimern gewonnen werden, die keine Tariflöhne zahlen", sagt ver.di-Chef Werneke. Einige Bundesländer würden die Tarifbindung bei öffentlichen Aufträgen zwar stärken, zum Beispiel das Saarland und Berlin. "Bei der Vergabe von Aufträgen des Bundes gibt es dagegen bisher gar keine Vorgaben", kritisiert Werneke.

"Mit Antidemokraten von der AfD reden wir nicht"

Wie stark die Politik in die Tarifpolitik eingreifen soll, ist auch im Arbeitnehmerlager umstritten. "Wir sagen Ja zu unterstützend-flankierenden Maßnahmen, aber Nein zu tiefen Eingriffen in das Tarifgeschehen", meint IG-Metaller Roman Zitzelsberger.

Trotzdem stehen die Gewerkschaften hinter dem gesetzlichen Mindestlohn, der in Deutschland seit 2015 gilt. Ver.di fordert eine Anhebung des derzeit gültigen Mindestlohns von stündlich 9,35 Euro auf 12 Euro.

Und auch das könne nur ein erster Schritt sein, sagt Frank Werneke: "Ein Mindestlohn von 12 Euro führt gerade mal dazu, dass man im Alter nicht in die Sozialhilfe rutscht. Unsere Vorstellungen von einem guten Tariflohn hören deshalb nicht bei 12 Euro auf. Sie fangen bei 12 Euro gerade erst an."

Als natürlicher Verbündeter der Gewerkschaften in der Politik galt jahrzehntelang die SPD. Doch die Sozialdemokraten stecken in der Krise – eine Situation, die Gewerkschaftsfunktionären durchaus Sorgen macht. Allerdings verweist ver.di-Chef Werneke auch auf die Hartz-Reformen, die einst eine SPD-geführte Bundesregierung gegen den Widerstand der Gewerkschaften durchgesetzt hat: "Ich gehöre seit bald 19 Jahren dem Bundesvorstand an. Die Verbindungen zur SPD waren in dieser langen Zeit eigentlich immer auch kompliziert."

Das Parteienspektrum sei heute breiter aufgestellt, meint auch Roman Zitzelsberger. Entsprechend tausche sich IG Metall im Südwesten genauso eng mit CDU und Grünen aus. "Wir sind parteipolitisch mehr denn je unabhängig, aber politisch nicht neutral. Mit Antidemokraten von der AfD reden wir nicht."

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Frank Werneke, Vorsitzender ver.di
  • Gespräch mit Roman Zitzelsberger, Leiter Landesbezirks IG Metall Baden-Württemberg
  • Deutscher Gewerkschaftsbund: "Die Mitglieder der DGB-Gewerkschaften"
  • Rosalux.de: "Bernd Riexinger – Auswege aus der politischen Krise der Gewerkschaften"
  • Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung: "Tarifbindung"
  • IG Metall Baden-Württemberg: "IG Metall wächst, fast 446.000 Mitglieder"
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