Die Zahl der Firmenpleiten ist in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr deutlich gestiegen. Mehr als 11.000 Unternehmen meldeten Insolvenz an, ein Plus von über 30 Prozent. So hoch wie in der Weltfinanzkrise 2009 sind die Zahlen damit noch nicht – ein Experte hält die Insolvenzen aber schon jetzt für deutlich schwerwiegender. Im Gespräch erklärt er, was dahinter steckt und warum sie so problematisch sind.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Dass es der deutschen Wirtschaft nicht gut geht, ist kein Geheimnis: Im internationalen Wirtschaftsvergleich war Deutschland zuletzt auf Platz 24 zurückgefallen, nachdem es 2014 noch auf Platz 6 gelandet war.

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Nun aber sorgen neue beunruhigende Entwicklungen für Aufsehen: Die Zahl der Firmenpleiten steigt stärker als erwartet. Nach Analysen der Restrukturierungsberatung "Falkensteg" sowie der Auskunftei "Creditreform" liegt der Anstieg im Vergleich zum Vorjahreszeitraum bei 30 bis 40 Prozent.

Besonders betroffen sind den Analysen zufolge Unternehmen im Bereich Immobilienwirtschaft, Automobilzulieferung und Maschinenbau. Aber auch im Handel und in der Dienstleistungsbranche geraten immer mehr Firmen in Schieflage.

Bündel an Gründen

"Creditreform" registrierte im ersten Halbjahr rund 11.000 Firmenpleiten. Das ist so viel wie seit fast 10 Jahren nicht mehr – zuletzt waren die Zahlen 2016 auf einem ähnlichen Niveau. Zu den bekannten Namen zählen der Reiseveranstalter FTI, die Kaufhauskette Galeria und das Modelabel Esprit. Aber auch Privatleute sind laut Analyse der Auskunftei immer häufiger betroffen: Sie registrierte 35.400 Fälle und damit 6,7 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.

Laut Patrik-Ludwig Hantzsch, dem Leiter der "Creditreform"-Wirtschaftsforschung, führt ein ganzes Bündel an Gründen zu der derzeitigen Situation. "Dazu zählen zum Beispiel der Wegfall der staatlichen Hilfen, die Nachwehen der Coronapandemie sowie Inflation und Zinsen im Wechselspiel", sagt er.

Unsicherheit durch Wirtschaftspolitik

Unternehmen wie etwa der stationäre textile Einzelhandel seien durch die Coronakrise immer noch geschwächt und hätten noch immer Nachholbedarf. "Die Konsumlaune ist noch nicht auf dem Niveau wieder angekommen, welches man mal hatte", beobachtet der Experten. Betroffen davon seien vor allem die Bereiche, in denen der Unternehmer direkt von der Kauf- oder Dienstleistungsentscheidung des Konsumenten abhängig ist.

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"Die Unternehmen haben in den letzten Jahren die Coronakrise erlebt, den Ukraine-Konflikt, ansteigende Zinsen, schlechte Refinanzierungsmöglichkeiten und restriktive Kreditentscheidungen seitens der Banken", erläutert Hantzsch. Außerdem habe man von Seiten der Politik eine dramatische Unsicherheit im wirtschaftspolitischen Kurs erlebt. Dabei gingen die Versäumnisse aber auch in die Zeit vor der Ampel-Regierung zurück.

Experte sieht "Corona-Bumerang"

Die Gründe seien allesamt nicht neu, doch die Unternehmen würden sich 2024 in einem verschärften Marktumfeld wiederfinden, während sie gleichzeitig geschwächter als beispielsweise 2019 seien. Hantzsch spricht in diesem Zusammenhang auch vom "Corona-Bumerang".

"Die Firmen sind geschwächt, müssen jetzt teilweise aber noch die Hilfen, die sie bekommen haben, zurückzahlen", sagt er. Das betreffe vor allem kleine und mittelständische Unternehmen – Handwerker, Gastronomen, Maschinenbauer, Grafiker. Außerdem sei die Inflation zwar zurückgegangen – aktuell liegt sie bei 2,2 Prozent –, die Verbraucher würden das aber noch nicht an allen Ecken und Enden merken.

Hemmschuh fürs Wirtschaften

"Die Zinsen sind immer noch hoch. Bis eine Zinssenkung der EZB bei den Banken ankommt und die ihre Kreditvergabeentscheidungen und auch ihre Konditionen wegen des deutlich gestiegenen Ausfallrisikos anpassen, wird viel Zeit vergehen", ist sich Hantzsch sicher.

Auch kommt er nicht drumherum, ein altes Klagelied anzustimmen: "Wir haben das höchste Energiepreisniveau in Europa, wir haben eine sehr hohe Besteuerung. Die Bedingungen, unter denen Unternehmer wirtschaften müssen, sind im Vergleich zum westeuropäischen Ausland deutlich schlechter", sagt der Experte. Insgesamt seien die Leitplanken fürs Wirtschaften in Deutschland ein Hemmschuh.

Gefährliche Verwechslung

Unternehmer hätten sich zuletzt vermehrt die Frage gestellt "Investiere ich in die Zukunft meines Unternehmens, meines Geschäftsmodells?" und sie mit "Nein" beantwortet – "weil sie nicht wissen, was in den kommenden Jahren passiert – Stichwort Heizungsgesetz", sagt Hantzsch. Auch Faktoren wie das Lieferkettengesetz hätten die Unsicherheit verschärft.

Die Folge: Die Unternehmer lassen das Portemonnaie zu, die Banken vergeben Kredite oft nur mit hohem Risikoaufschlag. Aus Sicht des Experten hat die Politik einen entscheidenden Punkt verwechselt: Liquidität und Rentabilität.

Hantzsch erklärt: "In den letzten Jahren haben die Unternehmen ihre Rechnungen bezahlt, unter anderem mit Hilfen aus den Corona-Hilfsmaßnahmen oder mit Eigenkapital. Sie hatten Liquidität. Aber sie waren nicht rentabel, nicht wettbewerbsfähig."

Hirntote Firmen "künstlich am Leben erhalten"

Das falle vielen jetzt auf die Füße. Sobald die Unterstützung von staatlicher Seite aufhöre – und das tut sie derzeit unter der verschärften Haushaltslage – müssen Unternehmen wieder aus eigener Kraft wirtschaften. "Ganz viele können das unter diesen verschärften Rahmenbedingungen nicht", stellt Hantzsch klar.

Politisch habe man daher viele Unternehmen an den Tropf gelegt, von denen manche bereits hirntot waren. "Wir haben sie quasi künstlich am Leben erhalten", so Hantzsch. Durch die Pandemie habe es einen enormen Anstieg solcher "Zombie"-Unternehmen gegeben. Gerade in einem Bereich, wo Lieferketten nicht ausdifferenziert seien, stellten solche Zombie-Unternehmen eine große Gefahr dar, weil viele andere daran hängen.

Bundesregierung beruhigt

Einen Grund für Alarmismus sieht die Bundesregierung derweil noch nicht. Wie eine Sprecherin des Grünen-geführten Wirtschaftsministeriums am Mittwoch in Berlin sagte, gebe es zwar eine verstärkte Dynamik, aber keine breite Insolvenzwelle. Im langfristigen 20-Jahres-Vergleich sei das aktuelle Niveau nicht auffällig.

Auch Hantzsch sagt: "Wir haben noch keine volkswirtschaftliche Katastrophe, weil es noch viele Unternehmen gibt, die rentabel wirtschaften." Derzeit würden sich die Gründe für die Insolvenzen materialisieren, das passiere immer etwas zeitverzögert.

Nach Einschätzung des Experten werden die Zahlen jedoch noch weiter ansteigen. Das Niveau von 2009 im Zusammenhang mit der Weltfinanzkrise sei noch nicht erreicht. Damals hatte es rund 33.000 Insolvenzen gegeben. Hanztsch sagt aber: "Jede Insolvenz, die heute passiert, ist deutlich schwerwiegender als eine Insolvenz 2009. Damals standen wir aus verschiedensten Gründen von einem langen Aufschwung. Jetzt stehen wir von einem langen Abschwung", sagt er.

Chance in der Krise

Außerdem seien damals zunächst Finanzinstitute betroffen gewesen, dann große Unternehmen und irgendwann die Handwerker, Konsumdienstleistern und andere. "Jetzt haben wir eine umgedrehte Situation: Jetzt trifft es die ganze Breite der Wirtschaft", sagt er. Auch seien beispielsweise die Gläubiger-Schäden diesmal höher als 2009.

"Der Maschinenraum Deutschlands ist betroffen – nämlich vor allem die Industrie und das verarbeitende Gewerbe", warnt Hantzsch. Dennoch würden Insolvenzen und Schließungen zu einer Marktwirtschaft dazugehören. Insolvenzen hätten in diesem Sinne einen Reinigungseffekt, der überholte Geschäftsmodelle aussortiere.

"Dadurch werden Kapital und Personal freigesetzt. Schließlich binden Zombie-Firmen teilweise über Jahre spezialisierte Mitarbeiter an sich, die man dringend woanders brauchen könnte", erinnert Hantzsch. Die Situation biete daher auch eine Chance.

Über den Gesprächspartner

  • Patrik-Ludwig Hantzsch ist Leiter der "Creditreform"-Wirtschaftsforschung.

Verwendete Quellen

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