Kein anderer Ort ist so abhängig von VW wie Wolfsburg. Die Abgas-Affäre bei Volkswagen bedeutet eine radikale Zäsur für die Motorstadt. Auf die schmerzhaften Folgen reagiert die Schicksalsgemeinschaft teilweise mit Trotz.

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Elf Millionen Autos sollen laut Firmeninformationen mit der manipulierten Software ausgestattet sein – 2,8 Millionen davon allein in Deutschland. Die Entscheidung für diese Manipulation, so hieß es gestern im Vorfeld einer Sitzung des VW-Aufsichtsratspräsidiums, hätte man womöglich bereits 2005 in der Motorenentwicklung der Wolfsburger VW-Zentrale getroffen. Von Versehen ist deshalb bei vielen längst keine Rede mehr. Stattdessen drängt sich der Eindruck auf: Hier handelt es sich schlichtweg um Betrug.

Doch der Abgas-Skandal kratzt nicht nur am Image des erfolgreichen Autobauers, sondern auch an seinem Hauptstandort. Wolfsburg existiert, weil es VW gibt. 1938 wurde die Stadt verkehrsgünstig am Südufer des Mittellandkanals als Heimstätte für die Werksmitarbeiter angelegt. Und diesen ging es vergleichsweise gut: Üppige Tarifverträge und günstige Jahreswagen unterstrichen das stolze Selbstbewusstsein – immerhin war man ein leistungsstarker Motor für die deutsche Automobilindustrie. Zumindest bis Mitte der Neunziger etliche Werkbänke nach Osteuropa verlagert und rund 20.000 Wolfsburger arbeitslos wurden.

Mit der Idee eines modernen Strukturkonzepts fing man sich wieder und investierte in ein Projekt namens "Autovision". Auto-Entwickler, Zulieferer und forschungsinteressierte Startups sowie Wellness- und Fitness-Unternehmen wurden angelockt und verwandelten ein krisengeschütteltes Provinznest in eine attraktive niedersächsische Metropole. Der Leitspruch "Wolfsburg ist Volkswagen" galt zwar weiterhin, aber nur noch bedingt.

Triste Stimmung

Im September 2015 ist die Stimmung nun aber wieder so trist wie manche Ecke in der Wolfsburger Innenstadt. Die Lokalpresse berichtet täglich über neue Hiobsbotschaften in der Abgas-Affäre: Wolfsburg muss mit deutlich weniger Gewerbesteuereinnahmen rechnen, mit VW Financial Services verhängt die Finanztochter des Konzerns einen Einstellungsstopp in Braunschweig, das Werk in Salzgitter sagt sogar eine Sonderschicht ab.

"Es muss alles daran gesetzt werden, dass keine Arbeitsplätze verloren gehen", zitiert der Wolfsburger Kurier den frommen Wunsch von Hartwig Erb. "Ein Neuanfang für Volkswagen ist dringend erforderlich", mahnt Wolfsburgs IG-Metall-Chef. Oberbürgermeister Klaus Mohrs (SPD) setzt laut einer Pressemitteilung großes Vertrauen in die Konzernführung. "Der von dem Unternehmen deutlich formulierte Wille, die Vorfälle lückenlos aufzuklären und an bisherige Erfolge anzuknüpfen, zeigt, dass Volkswagen weiter handlungsfähig ist." Volkswagen, so Mohrs, werde den Weg aus der Krise finden.

Niedersachsens Wirtschaftsminister und VW-Aufsichtsrat Olaf Lies (SPD) findet indes schärfere Töne. Er sprach im Interview mit dem britischen Rundfunksender BBC nicht nur von kriminellen Machenschaften. Lies fürchtet einen gewaltigen Image-Schaden, weil "Millionen von Menschen das Vertrauen in VW verloren haben". Das sieht Bernd Osterloh offenbar ähnlich, weshalb der Betriebsratsvorsitzende von VW in einem Brief die Belegschaft dazu aufrief, jetzt "alles dafür zu tun, dass wir unseren Kunden Fahrzeuge in bester Qualität liefern".

Kämpferische Töne

Der internen Loyalität zur eigenen Marke hat die Situation innerhalb der Belegschaft wohl noch nichts anhaben können. In der Facebook-Gruppe "Ich halte zu Volkswagen, egal was passiert..." bekennen sich weit über 24.000 Beschäftigte und VW-Fans nur eine Woche nach der Gründung der Gruppe als "große Familie" zum Konzern. "Die Hauptverantwortlichen müssen zweifelsfrei zur Rechenschaft gezogen werden, aber nicht der ganze Konzern mit seinen fleißigen Mitarbeitern", formuliert es ein Mitglied und erntet vielfache Zustimmung.

Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall warnt jedoch vor fatalen Konsequenzen des Manipulationsskandals für Deutschland und die Diesel-Technologie. "Daran hängen Wohlstand und Arbeitsplätze", sagte Hauptgeschäftsführer Oliver Zander der Neuen Osnabrücker Zeitung. 2014 arbeiteten rund 780.000 Menschen für die deutsche Automobilindustrie. Allein die Forschung zu Diesel-Motoren beschäftigt nach Angaben der IG Metall mehr als 20.000 Mitarbeiter bei deutschen Zulieferfirmen.

VW-Mitarbeiter könnten glimpflich davonkommen. Das Management darf ein Werk nur mit Zustimmung der Arbeitnehmer schließen. Das soll Arbeitsplätze sichern, so will es das VW-Gesetz. Auch der Geschäftsführer des hauseigenen Fußballklubs VfL Wolfsburg, Klaus Allofs, gibt sich ob der Zukunft seines Vereins unbekümmert. "Wenn man den gesamten Konzern betrachtet, ist das finanzielle Engagement sehr gering", erklärte er dem Wochenmagazin Die Zeit. Und fügte hinzu: "Der VfL ist umgekehrt für die Marke VW mehr wert als die tatsächlich investierte Summe".

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