Menschen lebten bereits vor rund 45.000 Jahren im nördlichen Europa - genauer: in Thüringen. Bei Ausgrabungen an der Ilsenhöhle kamen Fundstücke zum Vorschein, die weit in die Vergangenheit blicken lassen. In seinen Studien berichtet das Forschungsteam von einer "großen Überraschung".

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Eine sagenumwobene Höhle in Thüringen hat bereits in der Vergangenheit zahlreiche Fundstücke zutage gebracht. Die Ilsenhöhle, die sich unterhalb der Burg Ranis in der gleichnamigen Stadt befindet, hat nun erneut das Herz von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern höherschlagen lassen. Schon in den 1930er-Jahren entdeckten Archäologen dort so einiges - und auch diesmal wurden sie fündig.

Von 2016 bis 2022 führte ein internationales Forschungsteam dort Ausgrabungen durch. Was die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diesmal fanden, "war eine große Überraschung und entschädigte uns für die mühevolle Arbeit an der Fundstelle", sagt Marcel Weiss vom MPI-EVA, der an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg forscht. In drei Studien stellten die Forschenden ihre Ergebnisse vor, die in den Fachzeitschriften "Nature" und "Nature Ecology & Evolution" publiziert wurden.

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Steingeräte belegen erste Ausbreitung des Homo sapiens im nördlichen Europa

In der Ilsenhöhle grub das Forschungsteam neue Fossilien des Homo sapiens aus. Auch teils beidseitig bearbeitete Steingeräte kamen zum Vorschein. Solche spitzen Klingen wurden bereits in mehreren Teilen Europas ausgegraben.

Ilsenhöhle und Blattspitzen
Links ist die Fundstelle Ilsenhöhle unter der Burg Ranis zu sehen, rechts zwei Blattspitzentypen des LRJ aus der Ilsenhöhle in Ranis. © Tim Schüler, TLDA / Josephine Schubert, Museum Burg Ranis; Lizenz: CC-BY-ND 4.0

Der neue Fund in Thüringen lässt die Forschenden jedoch darauf schließen, dass der Homo sapiens dort schon einige Tausend Jahre vor dem Aussterben der Neandertaler lebte. Darüber informiert das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in einer Mitteilung zu den Forschungsergebnissen.

"Es ist jetzt sicher, dass Steingeräte, von denen man dachte, dass sie von Neandertalern hergestellt wurden, nun definitiv von H. sapiens stammen."

Jean-Jacques Hublin, ehemaliger Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (MPI-EVA) in Leipzig

"Die Fundstelle in Ranis erbrachte den Beweis für die erste Ausbreitung von Homo sapiens in die nördlichen Breiten von Europa. Es ist jetzt sicher, dass Steingeräte, von denen man dachte, dass sie von Neandertalern hergestellt wurden, nun definitiv von H. sapiens stammen", wird der ehemalige Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (MPI-EVA) in Leipzig, Jean-Jacques Hublin, zitiert.

Der Fund verändere das Wissen über die Übergangsperiode fundamental, "da nun klar ist, dass anatomisch moderne Menschen das nordwestliche Europa erreichten, lange bevor Neandertaler in Südwesteuropa verschwanden", so Hublin, der heute den Lehrstuhl für Paläoanthropologie am Collège de France in Paris leitet. Die Fossilien und Klingenspitzen sollen circa 45.000 Jahre alt sein.

Die aufwendige Ausgrabung förderte auch menschliche Knochenfragmente ans Tageslicht. Sie lassen die Archäologinnen und Archäologen weitere Schlüsse ziehen. Wie der Archäozoologe Geoff Smith von der University of Kent in Großbritannien berichtet, sei die Ilsenhöhle abwechselnd von Hyänen, überwinternden Höhlenbären und kleinen Menschengruppen genutzt worden.

"Obwohl die Knochen in kleine Stücke zerbrochen waren, sind sie außergewöhnlich gut erhalten und erlauben die Anwendung der neuesten Methoden aus den archäologischen Wissenschaften, der Proteomik und der Genetik", erklärt Smith. Dadurch habe man unter anderem herausgefunden, dass die Höhlenbewohner Fleisch aßen, unter anderem von Rentieren, Wollnashörnern und Pferden.

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Bewohner der Ilsenhöhle zählten zu frühesten Vertretern des Homo sapiens in Europa

Für ihre Untersuchung nutzten die Forschenden unter anderem Paläoproteomik. Mithilfe dieses neuen Instruments konnten sie die menschlichen Überreste identifizieren und näher untersuchen. Dabei nahmen sie nicht nur die neuen Funde unter die Lupe, sondern auch die Fundstücke der Ausgrabungen aus den 1930er-Jahren.

Und tatsächlich: Unter ihnen entdeckten die Archäologen weitere Menschenknochen. Hélène Rougier, Paläoanthropologin an der California State University Northridge, berichtet: "Es war eine unerwartete und fantastische Überraschung, in den schon seit nahezu 100 Jahren aufbewahrten Tierknochen noch Menschenknochen zu finden."

Menschliches Knochenfragment von der neuen Ausgrabung in Ranis © Tim Schüler, TLDA; Lizenz: CC-BY-ND 4.0

Die DNA von insgesamt 13 menschlichen Überresten aus beiden Ausgrabungen konnte im Anschluss entnommen und entschlüsselt werden. Dabei zeigte sich, dass die Fragmente wohl von derselben Person oder eines Verwandten der Person mütterlicherseits stammten.

Auch fand das Forschungsteam heraus, wann diese Menschen die Höhle bewohnten: Bei ihnen handle es sich um einige der frühesten Homo-sapiens-Vertreter in Europa. Diese Erkenntnis und die Auswertung weiterer Fundstücke deuten laut dem Forschungsteam darauf hin, dass Homo sapiens diese Stätte bereits vor 45.000 Jahren sporadisch besiedelt hat. Die Menschen bewegten sich damals in kleinen Gruppen, stellten blattförmige Steinwerkzeuge her und konkurrierten mit Fleischfressern wie Hyänen.

Homo sapiens lebten in rauen Klimabedingungen

Vor 45.000 Jahren herrschten noch ganz andere Bedingungen als heute. Es habe sehr kaltes Kontinentalklima vorgeherrscht, schreiben die Forschenden. Es habe offene Steppenlandschaften gegeben, "ähnlich denen im heutigen Sibirien oder Nordskandinavien". Als die Menschen nach Ranis kamen, sei es vermutlich sogar noch kälter geworden.

"Unsere Ergebnisse zeigen, dass selbst diese frühen Homo-sapiens-Gruppen, als sie sich über Eurasien ausbreiteten, schon in der Lage waren, sich an solch raue klimatische Bedingungen anzupassen", sagt Sarah Pederzani, Leiterin der Paläoklima-Studie an der Fundstätte. Bisher sei man davon ausgegangen, dass der Mensch erst mehrere Tausend Jahre später die Widerstandsfähigkeit gegen kalte Klimabedingungen entwickelte. "Somit ist unser Ergebnis durchaus überraschend. Vielleicht waren kalte Steppen mit größeren Herden von Beutetieren für diese Menschengruppen attraktiver als bisher vermutet."

Laut dem Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie ist die Arbeit des internationalen Forschungsteams "ein Meilenstein bei der Erforschung der frühesten Vorstöße von Homo sapiens in das Europa nördlich der Alpen während des Übergangs vom Mittel- zum Jungpaläolithikum". Auch Tim Schüler vom Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie in Weimar reagierte begeistert auf die Ergebnisse. Diese führten zu einem fundamentalen Umdenken und es sei "besonders erfreulich, dass wir die ältesten bekannten Homo-sapiens-Funde hier in Thüringen haben".

Verwendete Quellen

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