Die "Letzte Generation" stiftet viel Unmut und Frust. Ja, die Protestform mag kritikwürdig sein, doch die Forderungen der Klima-Gruppe sind weniger radikal, als man vermuten würde. Warum es sich lohnt, auf die Inhalte zu blicken.
"Staufalle für Pendler aus Brandenburg", "Klima-Aktivisten beginnen mit angekündigten Verkehrsblockaden", "Letzte Generation: An diesen Tagen sollen Straßenblockaden stattfinden". Die Überschriften verschiedener Medien zur aktuellen Aktion der "Letzten Generation" in Berlin zeigen: Es geht mal wieder ausschließlich um die Protestform. Also: Wo gibt es die Blockaden? Welche Ausweichmöglichkeiten gibt es für Bürger? Was darf Protest? Ich kann es nicht mehr hören.
Denn um die eigentliche Sache, also um den Klimawandel, beziehungsweise um die Forderungen der Protestierenden für konsequenteren Klimaschutz wird kaum gesprochen. Die Aktivistinnen und Aktivisten werden in den Medien und sozialen Netzwerken stattdessen immer wieder als Klima-Kleber, Terrorgruppe, Sekte oder gar als Klima-Taliban betitelt. Und nein, es ist kein Terror, wenn man sich auf die Straße klebt. Man nennt das zivilen Ungehorsam. Dessen Essenz ist es zu stören – und das tut die "Letzte Generation" ohne Frage.
Proteste rufen negative Emotionen hervor
Ich selbst stehe den Klebeblockaden eher kritisch gegenüber. Wenn man Pendler auf dem Weg zur Arbeit blockiert, Notärztinnen die Durchfahrt erschwert oder LKW-Fahrer und Taxen daran hindert, ihrer Arbeit nachzugehen, dann stiftet man vor allem Unmut und Frust – das ist ein Problem. Denn die Aktionen rufen so negative Emotionen hervor. Und das ist für den Klimaschutz kontraproduktiv.
Und doch ist die Motivation der "Letzten Generation", für ihre Ziele auf die Straße zu gehen, völlig gerechtfertigt. Denn die Zeit zu handeln drängt, das hat der kürzlich veröffentlichte Weltklimabericht deutlich gezeigt. Die 1,5-Grad-Grenze können wir wahrscheinlich kaum noch einhalten. Und die Auswirkungen der Klimakrise sind auch in diesem Jahr wieder deutlich zu spüren: Am Horn von Afrika herrscht die schlimmste Dürre seit 40 Jahren und Länder wie Frankreich, Spanien, Italien leiden schon jetzt im Frühling unter großer Dürre mit fatalen Auswirkungen für die Landwirtschaft.
Kanzleramt befreit Wissing von Klimaschutz-Sofortprogramm
Doch anstatt konsequenten Klimaschutz bei uns in Deutschland umzusetzen, verfehlen wir weiterhin Jahr für Jahr die Klimaziele. Erst vergangene Woche hat der Klimaexpertenrat mitgeteilt, dass die Zielvorgaben des Klimaschutzgesetzes nicht erreicht worden seien – vor allem im Gebäude- und Verkehrssektor.
Eigentlich hätte Bundesverkehrsminister
Gleichzeitig sehe ich all die Videos der aggressiven Reaktionen einiger Autofahrer und -fahrerinnen gegenüber den Protestierenden der "Letzten Generation". Die Bilder, die Gewalttätigkeit erschrecken mich immer wieder. Mich würde es nicht wundern, wenn es tatsächlich irgendwann Schwerverletzte geben wird – dem Klimaschutz wäre damit nicht geholfen.
Inhalte der "Letzten Generation" werden überschattet
Tatsächlich sind die Inhalte, die Forderungen der Gruppe weniger radikal, als man vermuten würde. Im Gegenteil, sie sind sogar ziemlich konstruktiv. Dazu gehört zum Beispiel ein Tempolimit von 100 km/h auf deutschen Autobahnen und ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket – beides wirksame Klimaschutzmaßnahmen.
Das 9-Euro-Ticket aus dem vergangenen Sommer wurde 52 Millionen Mal verkauft. Ein Viertel der Passagiere waren neu dazugewonnene Fahrgäste, die sonst das Auto genutzt hätten. Es wurden Tausende Tonnen CO2 eingespart. Das Deutschlandticket ist zwar ein guter erster Schritt. Aber 49 Euro sind für viele Menschen sehr viel Geld. Mobilität sollte jedem zustehen, für jeden bezahlbar sein.
Eine sinnvolle Maßnahme: Tempolimit auf Autobahnen
Auch ein Tempolimit ist eine sinnvolle Klimaschutzmaßnahme. Bereits eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 130 km/h hätte zahlreiche Vorteile, nicht nur was die CO2-Reduktion betrifft. Ein solches Tempolimit würde sogar Gewinne von mindestens 950 Millionen Euro pro Jahr bewirken, zeigt eine aktuelle Studie. Das Tempolimit sei demnach eine Win-Win-Situation für Gesellschaft und Klima.
Der wohl konstruktivste Vorschlag der "Letzten Generation" ist vor allem: die Einführung eines Gesellschaftsrats. Dafür sollen 160 Menschen per Los aus allen Bevölkerungsschichten Deutschlands zufällig gewählt werden und mithilfe von Experten und Expertinnen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik Pläne und Empfehlungen für ein klimaneutrales Deutschland bis zum Jahr 2030 erarbeiten: Fleischliebhaberinnen treffen auf Veganer, Landwirte auf Stadtmenschen, alt auf jung, links auf konservativ. Der Rat soll einen Ausschnitt der Gesellschaft darstellen, gemeinsam Lösungen erarbeiten.
Neu oder gar radikal ist diese Idee nicht. Selbst der Deutsche Bundestag hat "die sukzessive Konzeption, Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung" von bis zu drei Bürgerräten bis 2025 ausgeschrieben.
Erfolgreiche Bürgerräte
Bisherige Bürgerräte, die sich mit dem Thema Klima auseinandergesetzt haben, zeigen dabei, dass sie teilweise sogar drastischere Veränderungen fordern als ihre gewählten Vertreter im Parlament. Zum Beispiel sprach sich die Mehrheit eines Klima-Bürgerrats in Berlin dafür aus, Autofahren unattraktiver und teurer zu machen. Und in Frankreich wollte der Bürgerrat den Klimaschutz in die Verfassung schreiben.
Doch am Ende entscheiden eben doch die gewählten Volksvertreterinnen und -vertreter im Parlament und das ist gut so. Bereits das Einbringen der Vorschläge ins Parlament bietet einen enormen Mehrwert. Der "Letzten Generation" wird nur zu oft die Spaltung der Gesellschaft vorgeworfen. Ein Gesellschaftsrat könnte genau das Gegenteil bewirken und eine Brücke zwischen verschiedenen Lagern schlagen. © RiffReporter
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