• Laut der Studie eines internationalen Forscherteams könnte die Zahl der Mädchengeburten bis 2030 dramatisch sinken.
  • Mit 4,7 Millionen weniger weiblichem Nachwuchs rechnen die Autoren in ihrer Projektion.
  • Die Folgen wären für die gesamte Gesellschaft spürbar: Von einem Engpass an Partnerinnen bis hin zu Migrationsdruck.

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Bis 2030 könnte die Zahl der Mädchengeburten drastisch sinken. Das prognostiziert eine Studie, die Anfang August in der medizinischen Fachzeitschrift "British Medical Journal" veröffentlicht wurde. 4,7 Millionen Mädchen könnten demnach insgesamt in 12 betroffenen Ländern weniger geboren werden. Bis zum Jahr 2100 zeigt ein mögliches Szenario der Forscher sogar ein Minus von 22 Millionen Mädchengeburten weltweit.

Betroffen sind Länder, die bereits eine Schieflage zwischen den Geschlechtern verzeichnen – aufgrund einer kulturellen Präferenz für männlichen Nachwuchs. Dazu zählen vor allem Länder in Südosteuropa und Südostasien, aber auch Nigeria und Pakistan laufen Gefahr, die Geburtenrate von Jungen über das natürliche Level zu steigern. Weltweit kommen im Schnitt 107,3 Jungen auf 100 Mädchengeburten. In China liegt dieser Wert bei 115,2, in Deutschland bei 105,8.

Noch unbekannte Auswirkungen

"Als Konsequenz aus dieser Präferenz wird es einen Überschuss an jungen Männern in mehr als einem Drittel der Weltbevölkerung geben, wobei die vollen sozialen und ökonomischen Auswirkungen noch unbekannt sind", schreiben die Wissenschaftler. Auf Grundlage von umfassenden Datensätzen bestehend aus 3,26 Milliarden Geburtsurkunden aus 204 Ländern aus den Jahren 1970 bis 2020 berechneten die Forscher zwei mögliche Zukunftsszenarien.

Im ersten Szenario bezogen sie nur solche Länder in die Berechnung mit ein, die bereits ein zunehmendes Ungleichgewicht der Geschlechter verzeichnen, im zweiten Szenario kamen auch jene Länder hinzu, die als gefährdet gelten.

Frauen als ökonomisches Risiko

Martin Diewald ist Sozialwissenschaftler. Er sagt: "Ursächlich für die ungleiche Geschlechterverteilung sind Kulturen, in denen Frauen weniger wert sind als Männer beziehungsweise ein Risiko darstellen." Zur Wahrung der Familientradition seien in patriarchalen Gesellschaften Männer erforderlich, um die nächste Generation fortzuführen.

"In Teilen Indiens ist es zum Beispiel der Fall, dass der Brautvater bei der Verheiratung die Hochzeitsfeier ausrichten muss. Das bringt für manche Familien ernsthafte ökonomische Schwierigkeiten mit sich", so der Experte. Weibliche Föten würden in diesen Ländern in der Folge häufiger abgetrieben. "Sie sind für die Familien ein Verlustgeschäft und stellen unter Umständen eine Bedrohung der ökonomischen Situation dar", sagt Diewald.

Pränataldiagnostik: Mehr Abtreibungen

Man beobachte das Phänomen schon seit den 1970er Jahren, auch damit verbundene Probleme seien bereits zutage getreten: "Es ist schon heute Praxis, dass Frauen aus anderen asiatischen Ländern nach China importiert werden, um dort verheiratet zu werden", erinnert Diewald.

Doch eine neue Entwicklung hat den Trend beschleunigt: "Die Pränataldiagnostik wird immer mehr zum Standard, sodass Familien bereits während der Schwangerschaft das Geschlecht erfahren. Das führt zu mehr Abtreibungen", beobachtet Diewald. Vorher sei es oft vorgekommen, dass Mädchen kurz nach der Geburt getötet wurden.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Gefahr

Die Autoren der Studie warnen, der Männerüberhang könne langfristig den sozialen Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaften untergraben. Auch Experte Diewald sagt: "Eine deutlich ungleiche Verteilung der Geschlechter birgt Konfliktpotenzial."

Junge Männer hätten vor allen zwei Entwicklungsaufgaben: Heiraten und Geld verdienen. "Wenn eine dieser Standard-Entwicklungsaufgaben gefährdet ist, nehmen Aggression und Gewalt mit Sicherheit zu", warnt Diewald. Auch einen "Heiratsdruck" könne die Entwicklung auslösen. "Die Verweigerung von Glück und Erfüllung könnte zu mehr aggressiven und gewaltsamen Verhaltensweisen führen", warnt Diewald.

Erhöhter Migrationsdruck

Auch für Deutschland könnte das Konsequenzen haben: "Wir leben nicht in nationalen Containern, sondern unsere Gesellschaften sind miteinander verknüpft", erinnert Diewald. Wenn man keine Partnerin finde, weil die Auswahl deutlich eingeschränkt sei, schaffe das Migrationsdruck. "Wenn es in einer Gesellschaft für junge Menschen keine Chance gibt, ihre primären Lebensziele zu erreichen, steigert das natürlich den Druck, in andere Länder zu emigrieren – wovon dann auch Deutschland betroffen sein könnte", so Diewald.

Die Forscher fordern in der Fachzeitschrift eine verbesserte Datenerhebung über Praktiken zur Geschlechtsselektion sowie breite Informationskampagnen. Langfristig müsse Einfluss auf die Geschlechternormen genommen werden, die der Kern von schädlichen Praktiken wie der pränatalen Geschlechtsselektion seien.

Langsamer Kulturwandel

Auch aus Sicht von Experte Diewald kann Abhilfe nur über langsame Prozesse geschaffen werden: "Die Kultur muss sich wandeln, das geht allerdings nicht von heute auf morgen", sagt er. Es brauche mehr Anerkennung und mehr Bildung für Frauen, sodass sie von der Rolle, Geld zu kosten und ein ökonomisches Risiko darzustellen, wegkämen. "In stärker egalitären Lebensformen bedeuten Frauen dann auch ein ökonomisches Potenzial", so der Experte.

Ansatzpunkte sieht er auch im medizinischen Bereich: "Man könnte vielleicht mit mehr Vorsorge und Begleitung während der Schwangerschaft und Geburt erreichen, dass die Schwelle für Abtreibungen und Kindstötungen steigt", so Diewald.

Über den Experten:
Prof. Dr. Martin Diewald ist Sozialwissenschaftler an der Universität Bielefeld. Er lehrt dort als Professor für Sozialstrukturanalyse.

Verwendete Quellen:

  • British Medical Journal: Countries with skewed sex ratio at birth set to ‘lose’ another 4.7m girls by 2030. 02.August 2021
  • Interview mit Martin Diewald
  • The World Bank: Sex ratio at birth (male births per female births) - World
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