Silbermöwen sind nicht gerade Sympathieträger. Sie sind laut, haben einen stechenden Blick und sind als Pommesdiebe berüchtigt. Aber was wären unsere Küsten ohne ihre Silhouetten und Rufe?

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Fabian Busch dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Der Angriff kam unvermittelt. Die junge Frau in der Bahnhofshalle von Brighton war gerade in ein Telefonat vertieft, als sie von Flügelschlagen direkt über ihrem Kopf überrascht wurde. Das Sandwich, das sie in der Hand hielt, fiel zu Boden - und die geflügelte Angreiferin fackelte nicht lange, schnappte sich das belegte Weißbrot und flog davon.

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Nicht nur im südenglischen Seebad sollte man beim Essen misstrauisch den Luftraum im Auge behalten. Auch an Deutschlands Küsten sind geflügelte Diebe unterwegs. Oft sind es Silbermöwen, die eben noch am Himmel segelten und einem im nächsten Moment schon die Pommes aus der Tüte ziehen oder das Fischbrötchen aus der Hand reißen.

Unheil aus der Luft

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht – aber ich habe ein zwiespältiges Verhältnis zu Möwen, vor allem zur Silbermöwe. Der stechende Blick aus hellgelben Augen, der große gelbe Schnabel mit dem blutroten Fleck – das ist durchaus respekteinflößend.

Bei manchen Menschen kann sich der Respekt zur Angst auswachsen. Alfred Hitchcock hat diesem Gefühl filmische Nahrung gegeben. In seinem Horror-Klassiker "Die Vögel" fliegen die Möwen die ersten Angriffe, verletzten eine Frau und verwüsten eine Geburtstagsparty.

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Die Möwe ist offenbar kein Sympathieträger. Eine kurze Umfrage in meinem Büro ergab: Einem Kollegen wollte eine Möwe am Strand in Portugal mal einen Schuh klauen, als er im Wasser war – sie bekam aber nur einen Socken zu fassen und ließ diesen über dem Meer fallen. Eine Kollegin musste in Bremerhaven mal ihre Spazierroute ändern, weil eine Möwe ihr mit Angriffsflügen den Durchgang versperrte. "Garstige Biester", hat sie gesagt.

Die Putzkolonne

Sie ahnen es schon: Es gibt natürlich noch mehr über Möwen zu erzählen. Ihre Vorliebe für Totes oder Liegengelassenes macht sie zu wichtigen Reinigungskräften an den Küsten: Sie säubern Strände und Promenaden von Aas und Müll. Und wenn sie das alles verdaut haben, versehen sie die Dünenpflanzen mit Dünger. Ihren Wasserbedarf können sie sogar mit Meerwasser stillen – weil sie überschüssiges Salz durch ihre Schnabellöcher wieder ausscheiden können. So weit, so praktisch.

Vielleicht sind die Diebestouren in den Küstenstädten auch einfach die Rache der Möwen. Denn vor 100 Jahren ist der Mensch den Vögeln noch viel unangenehmer auf die Pelle gerückt als heute. Möwen wurden gefangen, gerupft und gegessen. Vor allem ihre Eier galten als Delikatesse – bis man herausfand, dass sie neben "starken Geschmacksimpulsen" auch bedenkliche Mengen an Schadstoffen enthalten.

Eine Brutkolonie mitten in der Stadt

Die Silbermöwe hat sich mit dem Menschen inzwischen arrangiert. Das gilt besonders für Berlin. Dort zieht eine Brutkolonie jedes Jahr eine neue Generation mitten in der Stadt auf: auf dem Dach eines Einkaufszentrums neben dem Alexanderplatz. Im Jahr 2022 wurden dort 76 Brutpaare gezählt. Ihre Nester sind der Sonne zwar schonungslos ausgesetzt – aber immerhin sicher vor Füchsen und Ratten. Bis zu 40 Kilometer sollen die Möweneltern fliegen, um ihre Küken mit Fisch zu versorgen. Die garstigen Biester sind offenbar fürsorgliche Eltern.

Eine Silbermöwe mit Küken auf Helgoland. Es dauert bis zu vier Jahre, bis die jungen Vögel die Gefiederfarbe der Erwachsenen erreicht haben. © IMAGO/blickwinkel/H. Duty

Die kleineren Lachmöwen gehören schon seit Jahrzehnten zur Stadt. In den Zeiten der deutschen Teilung segelten sie an der Spree mühelos über die Mauer hinweg. Fischreiche Teiche im Umland und Müllkippen mit verwertbarem Weggeworfenen lockten später auch die größeren Silbermöwen nach Berlin.

Im Frühling und Sommer gehören segelnde Silber- und Steppenmöwen deswegen zum Luftbild – auch wenn das Meer weit weg ist. Eigentlich ganz passend für eine Stadt, in der auch die Menschen aus aller Welt stammen und jeder und jede irgendwie sein kann, wie er und sie es für richtig hält.

Kleine Möwenkunde – achten Sie auf die Beine

  • Silbermöwe: Die bekannteste größere Möwe ist an den deutschen Küsten zu finden. Zu erkennen ist sie an ihrem hellgrauen Rücken und den rosa Beinen.
  • Lachmöwe: Die in Mitteleuropa häufigste Möwe ist auch im Binnenland anzutreffen. Zur Brutzeit macht der dunkelbraune Kopf sie unverwechselbar – im Winter bleibt davon allerdings nur ein kleiner Fleck am Ohr übrig. Schnabel und Beine sind dunkelrot.
  • Mittelmeermöwe: Sie kommt vor allem in Süddeutschland vor, ähnelt der Silbermöwe, hat aber gelbe Beine.
  • Heringsmöwe: Eine Möwe der Küsten. Auch sie ähnelt der Silbermöwe, hat aber gelbe Beine und ein dunkleres Rückengefieder.
  • Sturmmöwe: Sie rückt von den Küsten zunehmend ins Binnenland vor. Im Vergleich zur Silbermöwe fehlt ihr der rote Fleck am Schnabel.
  • Mantelmöwe: Die größte europäische Möwe ist mit etwas Glück an Nord- und Ostsee zu finden. Sie kann eine Spannweite von bis zu 1,60 Metern erreichen. Auch sie ähnelt der Silbermöwe, hat aber ein sehr dunkles Rückengefieder.
  • Steppenmöwe: Sie brütet inzwischen an manchen ostdeutschen Tagebau-Seen und ist von der Silbermöwe nur sehr schwer zu unterscheiden. Am ehesten noch durch die gelblichen Beine.

Die Seelen der Menschen, die auf See geblieben sind

Auch wenn sie Pommes klauen, auch wenn ihre Schreie nicht immer wie Musik in unseren Ohren klingen: Unsere Küsten sind ohne die Silhouetten und Rufe der Möwe nicht vorstellbar. Sie gehören dazu wie das Rauschen des Meeres, hat der Ornithologe Friedrich Goethe geschrieben.

Für ihn sind sie sogar das "landschaftsbildende Element" der Küsten. Goethe (offenbar kein Verwandter des Dichters) widmete den weißen Vögeln fast sein ganzes Leben. Er hat das Verhalten der Silbermöwen studiert, ein Buch über sie geschrieben – und sogar ihre unterschiedlichen Rufe in Noten übersetzt. Wenn wir Goethe glauben, verfügen Möwen über ein ganzes Sprachrepertoire. Sie betteln und beschwichtigen, sie warnen vor Gefahren oder rufen zum Abflug.

Land ist nicht mehr weit: Möwen begleiten einen Fischkutter am Timmendorfer Strand. © dpa/imageBROKER/Stefan Hargus

In der Kunst sind Möwen manchmal Boten des Unheils, auf hoher See dagegen künden sie vom rettenden Land. Der Dramaturg und Autor Holger Teschke hat als junger Mann auf einem Fischkutter gearbeitet. Er beschreibt in seinem Buchporträt die besondere Bedeutung, die Menschen auf See den Möwen über Generationen und Ländergrenzen hinweg zugeschrieben haben: In jeder Möwe hause die Seele eines auf dem Meer umgekommenen Seemannes, heißt es.

Da nimmt man ihnen den einen oder anderen Diebstahl doch nicht mehr krumm.

Zum Weiterlesen

  • Holger Teschke: Möwen, Verlag Naturkunden
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