Anlässlich des Internationalen Frauentags am 8. März spricht Strafverteidigerin Christina Clemm über Gewalt und Hass gegen Frauen und erklärt, warum wir ihrer Ansicht nach in einem System leben, das Gewalt gegen Frauen sogar begünstigt.
Als Strafverteidigerin hat Christina Clemm in den vergangenen 30 Jahren Hunderte Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt vertreten. Mit ihrem Buch "Gegen Frauenhass" zieht sie eine ernüchternde Bilanz und richtet sich mit einer deutlichen Forderung an die Justiz, Politik und Gesellschaft: Gewalt gegen Frauen könne nur dann bekämpft werden, wenn ein gesellschaftliches Umdenken und der Willen zur Gleichstellung stattfindet.
Im Interview mit unserer Redaktion spricht Christina Clemm über den Weltfrauentag, die Normalisierung von Hass und erklärt, inwiefern das System, in dem wir leben, nach ihrer Ansicht Gewalt gegen Frauen begünstigt.
Frau Clemm, jeden dritten Tag wird eine Frau in Deutschland von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Das sind verstörende Zahlen …
Christina Clemm: Absolut. Noch verstörender ist aber, dass sich diese Zahlen nicht verändert haben in den letzten Jahren. Das Bundeskriminalamt veröffentlicht einmal im Jahr eine Statistik zur Partnerschaftsgewalt. Daraus ging hervor, dass die Zahlen zur Partnerschaftsgewalt zuletzt sogar gestiegen sind.
Können Sie sich erklären, wie es dazu kommen kann?
Ich denke, es gibt viele Gründe. Einer davon ist, dass es flächendeckend viel zu wenig Prävention gibt. Dazu kommt, dass in der Gesellschaft eine so große Normalisierung von Gewalt gegen Frauen besteht, dass nicht genau hingesehen wird. Dass jeden dritten Tag eine Frau in Deutschland von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet wird, ist bekannt. Es wird aber schulterzuckend hingenommen, als wäre es quasi naturgegeben, nicht veränderbar. Natürlich zeigen sich manche Menschen von diesen Zahlen erschüttert, einen wirklichen Aufschrei gibt es aber nicht.
Ist jede Frau von Frauenhass betroffen?
Unter "Hass" verstehen viele Menschen eine Emotion. Ich definiere aber Frauenhass als Ressentiments, die auf einer Gewohnheit der Verachtung beruhen. Wir lernen diese Frauenverachtung von frühester Kindheit an, es ist der zielgerichtete Hass, der gewalttätig oder gar vernichtend werden kann. Nicht jede Frau ist in ihrem Leben von physischer Gewalt betroffen, aber Verachtung, Herabwürdigung oder auch Formen der sexualisierten Gewalt zu erleben, kennt jede Frau.
Also ist Hass so normalisiert, dass er gewissermaßen allgegenwärtig ist?
So ist es. Er ist sogar so allgegenwärtig, dass er selbst von Betroffenen häufig kaum wahrgenommen wird, vor allem, wenn es um psychische Gewalt oder etwa Gewalt im beruflichen Kontext geht. Mich erreichen immer wieder Rückmeldungen auf mein Buch, in denen Frauen berichten, erst durch die darin erklärten Schilderungen erkannt zu haben, wie oft sie sie bereits selbst Diskriminierung und Gewalt erfahren zu haben.
Am 8. März begehen wir den internationalen Frauentag. Der Tag steht dafür, dass Frauen ihre Stimme nutzen und unter anderem gegen Hass und Gewalt gegen Frauen einstehen. Aber ist Frauenhass letztlich nicht viel mehr ein Männer- als ein Frauenthema? Immerhin müsste es doch auch das Anliegen der Männer sein, die Gewalt zu beenden …
Das sehe ich genauso. Frauen sind von Gewalt betroffen, aber eigentlich sprechen wir hier von einem Männerproblem. Wir könnten uns alle Prävention und Frauenhäuser sparen, wenn Männer aufhören würden, gewalttätig zu sein. Natürlich gibt es Männer, die am 8. März an Frauendemonstrationen oder Kundgebungen teilnehmen, die gegen Gewalt gegen Frauen kämpfen, aber insgesamt brauchen wir viel mehr Männer, die endlich dafür einstehen, nicht weiter in einer solchen Gesellschaft leben zu wollen.
In diesem Zusammenhang fällt häufig das Schlagwort "Not all men". Damit soll aufgezeigt werden, dass ja nicht alle Männer Frauen hassen und gewalttätig sind …
Was für eine banale Aussage, das ist doch selbstverständlich. Aber: Es reicht nicht aus, als Mann nicht gewalttätig zu sein. Vielmehr müssen Männer über ihre eigene Machtposition nachdenken und aktiv werden, Gewalt an Frauen zu verhindern. Es ist natürlich wichtig, als Mann nicht gewalttätig zu sein, aber es geht auch um die Frage, wie man als Mann aktiv einen Anteil daran haben kann, die Gesellschaft zu verändern.
Sprechen wir von Gewalt gegen Frauen, sprechen wir auch häufig von der Täter-Opfer-Umkehr oder dem sogenannten Victim Blaming.
So ist es. Victim Blaming, die Beschuldigung gegen das Opfer, bringt viele Aspekte mit sich. Im Zusammenhang von partnerschaftlicher Gewalt werden Frauen häufig mit Fragen wie "Warum hast du dir diesen Mann denn ausgesucht?" oder "Warum hast du ihn nicht verlassen?" konfrontiert. Es wird also immer wieder den Frauen die Schuld für die Eskalation zugeschoben. Wir dürfen nicht vergessen, dass Frauen häufig sehr gute Gründe haben, ihre gewalttätigen Partner nicht zu verlassen. Zum einen hoffen viele, dass die Gewalt irgendwann ein Ende nimmt, immerhin haben sie diesen Mann einmal geliebt. Oder sie haben keine ökonomische Perspektive. Zum anderen haben viele Frauen leider häufig sehr berechtigte Angst. Viele werden massiv bedroht und erhalten keinen Schutz. Ich werde in meinem Beruf als Juristin immer wieder mit Fällen konfrontiert, in denen die Frauen die Trennung nicht überleben.
In diesem Fall sprechen wir von Femiziden, die häufig mit Attributen wie "Verbrechen aus Leidenschaft" betitelt werden oder dem Täter Verzweiflung unterstellt wird. Kurzum: Die Gewalttaten werden auf Gefühle reduziert. Inwiefern ist das problematisch?
Nie wird ein Mann so wenig ernst genommen, als wenn er sagt, er wolle seine Frau umbringen. Übergriffe wie Stalking, Bedrohungen oder Gewalt werden noch immer bagatellisiert, was absurd ist. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Frauen sonst immer Emotionalität zugeschrieben wird. Tötet aber ein Mann eine Frau, heißt es, er habe aus Verzweiflung, in einem Überschwang der Emotionen gehandelt – und das, obwohl viele Männer ihre Taten vorher planen oder sogar ankündigen. Die Situation mag hochemotional sein, die Taten aber sind in der Regel nicht spontan.
Dass in der medialen Berichterstattung häufig mit Begriffen wie "Familiendrama" getitelt wird, stelle ich fest, es scheint aber langsam ein Bewusstsein für die Problematik zu geben. Erschüttert bin ich aber, wie wenig mediale Aufmerksamkeit diese Fälle häufig erhalten, wie wenig Menschen sich dafür interessieren. Auch in der Polizeiarbeit vermisse ich vieles. Sobald ein Fall von Gewalt gegen Frauen den Stempel "Häusliche Gewalt" aufgedrückt bekommt, wird immer noch zu oft schlechter ermittelt als bei sogenannten Fremdtätern.
Woran liegt das?
Es hat nicht unbedingt etwas mit der Unfähigkeit einzelner Polizeibeamten und -beamtinnen zu tun. Vielmehr liegt es an mangelnden Kapazitäten bei den Behörden, zu wenig Ausbildung und Sensibilisierung der Polizei, zu wenig Hochrisikoanalysen und der Normalisierung von Partnerschaftsgewalt.
Begünstigt das System, in dem wir leben, also Gewalt gegen Frauen?
Ja. Ich vertrete seit fast 30 Jahren Opfer von geschlechtsbezogener, queerfeindlicher, rassistischer oder sexualisierter Gewalt und ich muss feststellen, dass sich während dieser 30 Jahre nicht viel verändert hat. In diesem Zusammenhang muss man fragen, warum die Gesellschaft auf diese Taten so träge reagiert. Schlussendlich stützt diese Gewaltformen das Gesellschaftssystem, in dem wir leben. Natürlich befürwortet es kaum jemand, wenn eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet wird, aber es wird als normal angesehen, dass Frauen in größerer Unsicherheit leben müssen als Männer. Hierdurch werden sie eingeschränkt und dadurch wird letztlich das patriarchale System gestützt.
In der Regel wird dieser Sicherheitsgedanke uns Frauen ja schon im Kindesalter von Erwachsenen beigebracht.
Das stimmt. Dabei sprechen wir eigentlich von einer Zwiespältigkeit. Auf der einen Seite wird uns beigebracht, dass wir die Schuld daran tragen, wenn wir uns in gefährliche Situationen begeben, falsch kleiden, nachts allein unterwegs sind. Auf der anderen Seite aber sollen Frauen auch attraktiv und stets charmant sein.
Ihnen begegnen in Ihrem Beruf mitunter schwere Schicksale – was macht das mit Ihnen persönlich?
Es ist mir möglich, die Schicksale, die mir begegnen, sehr gut auszuhalten, weil ich es als ganz großartig empfinde, mitzuerleben, wie Betroffene sich aus ihren schweren Situationen befreien. An der Seite der Betroffenen zu sein und zu versuchen, sie gut durch die Verfahren zu bringen, gibt mir sehr viel, denn ich beobachte die Menschen dabei, wie sie etwas, das ihnen geraubt wurde, zurückgewinnen. Das erleben zu dürfen, empfinde ich als Geschenk. Es gibt aber natürlich auch Fälle und Schicksale, die entsetzlich sind und die mich auch sehr berühren.
Richtet sich auch ein gewisser Täterhass gegen Sie?
Im Gerichtssaal erlebe ich es häufig, dass mir wütende Gesten entgegengebracht werden. Natürlich bin ich auch schon das eine oder andere Mal bedroht worden, wobei offensive Drohungen eher aus der rechten Ecke kamen. Schlussendlich bin ich als Nebenklagevertreterin aber nur Vertreterin meiner Mandantin, der Hass der Täter gilt ihnen. Diesen zu spüren, lässt mich nur erahnen, was meine Mandantinnen zu ertragen haben.
Sie haben gesagt, Ihr Eindruck sei, dass mit Blick auf Hass und Gewalt gegen Frauen in den vergangenen Jahrzehnten kein wesentlicher Wandel stattgefunden habe. Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich bin davon überzeugt, dass wir das Problem der Gewalt gegen Frauen nur gesamtgesellschaftlich angehen können. Natürlich benötigen wir mehr Prävention, mehr Frauenhäuser und mehr Kapazitäten bei Behörden. Letztlich brauchen wir aber auch ein gesellschaftliches Umdenken und den Willen zur Gleichstellung. Das kann aber nur funktionieren, wenn wir Gewalt gegen Frauen bekämpfen. Und andere Diskriminierungsformen wie Rassismus und Queerfeindlichkeit. Leider leben wir aktuell in einer Zeit, in der rechte Bewegungen antifeministische Ideen vorantreiben. Umso mehr müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass wir Gewalt gegen Frauen bekämpfen müssen, wenn wir in einer solidarischen Gesellschaft leben wollen.
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Über die Gesprächspartnerin
- Christina Clemm ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Straf- und Familienrecht in Berlin. Seit fast 30 Jahren vertritt sie Opfer geschlechtsbezogener, sexualisierter, rassistisch motivierter, rechtsextremer, LSBTI*-feindlicher, antisemitischer oder ansonsten menschenverachtender Gewalt. 2023 ist Clemms zweites Sachbuch "Gegen Frauenhass" erschienen, das für den Preis der Leipziger Buchmesse 2024 nominiert ist.
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