Die Erforschung des menschlichen Immunsystems bringt große Unterschiede zwischen Männern und Frauen zutage. Was das für Infekte, Autoimmunerkrankungen sowie Verläufe bei Covid bedeutet – und warum trotzdem beide die gleiche Impfung bekommen.

Ein Interview

Unser Abwehrsystem ist nicht geschlechtsneutral: Männer sterben öfter an Infektionskrankheiten, Frauen bekommen eher Autoimmunerkrankungen. Der Immunologe Marcus Altfeld über Impfungen, die für Männer optimiert sind, die Kehrseite eines starken Immunsystems und die wichtigsten Maßnahmen, um Krankheiten vorzubeugen.

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Herr Altfeld, Studien haben gezeigt, dass Frauen ein stärkeres Immunsystem haben als Männer. Warum ist das so?

Marcus Altfeld: Daran wird gerade viel geforscht, einiges verstehen wir schon, vieles noch nicht. Was wir verstehen, ist einmal der Einfluss der Geschlechtshormone. Die weiblichen, vor allem Östrogen, stärken im Allgemeinen die Funktion von Immunzellen. Das männliche Geschlechtshormon Testosteron dagegen kann die Funktion der Immunzellen unterdrücken und reduzieren.

Wie funktioniert das?

Alle Immunzellen – sowohl T-Zellen, die körperfremde Antigene erkennen, als auch B-Zellen, die Antikörper produzieren – haben Rezeptoren, die die Geschlechtshormone erkennen. Wie viel Östrogen oder Testosteron auf diese Zellen trifft, beeinflusst deren Funktion. Das gilt sowohl für das angeborene Immunsystem als auch für das adaptive, das sich im Laufe des Lebens als Reaktion auf den Kontakt mit Krankheitserregern entwickelt.

Über den Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Marcus Altfeld ist Direktor des Instituts für Immunologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und des Leibniz Instituts für Virologie. Er leitet gemeinsam mit Prof. Hanna Lotter vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Forschungsgruppe "Geschlechtsspezifische Unterschiede in Immunantworten".

Nach der Menopause produzieren Frauen weniger Östrogen. Verschwinden im höheren Alter die Geschlechterunterschiede?

Sie nehmen ab. Aber hier kommt ein zweiter Punkt ins Spiel: die Rolle der Chromosomen. Lange Zeit dachte man, das zweite X-Chromosom bei weiblichen Organismen sei inaktiv und habe keine wirkliche Funktion. Mittlerweile ist klar, dass auch das zweite X-Chromosom abgelesen werden kann. Dadurch werden Gene, die auf dem X-Chromosom liegen, bei einigen weiblichen Zellen in höherem Maße abgelesen und in Proteine umgewandelt als bei männlichen. Und das betrifft auch viele der Gene, die unsere Immunantwort regulieren, zum Beispiel die, die es uns erlauben, Hepatitis-, HI- oder SARS-Corona-Viren zu erkennen.

Auch eine 60-jährige Frau hat also im Durchschnitt eine stärkere Immunantwort gegen Krankheitserreger als ein 60-jähriger Mann?

Ja. Und schon ein neugeborenes Mädchen hat eine stärkere Immunantwort gegen Erreger als ein gleichaltriger Junge. Dafür sind zum Teil wieder die chromosomalen Faktoren verantwortlich, zum Teil aber auch die Sexualhormone. Schon in der Embryonalphase wird bei Jungen Testosteron ausgeschüttet und bei Mädchen Östrogen. Durch diese Hormonausschüttung bilden sich die sekundären Geschlechtsmerkmale, und nebenbei verändern sich auch die Immunzellen.

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Welche Folgen hat das?

Es scheint unter anderem einer der Gründe dafür zu sein, dass die Kindersterblichkeit bei Jungen höher als bei Mädchen ist. Vor allem die Sterblichkeit durch bakterielle und virale Durchfallerkrankungen und durch Infektionen der Atemwege – also durch die beiden häufigsten Todesursachen in der frühen Kindheit.

Ist das auch schon vor der Geburt so? Erleidet man eher eine Fehlgeburt, wenn man mit einem Jungen schwanger ist?

Das ist noch unklar. Bei Zika-Virus-Infektionen von Mäusen in der Schwangerschaft zum Beispiel sind ungeborene männliche Nachkommen stärker von Schäden in der Hirnentwicklung betroffen. Wenn sich jemand während der Schwangerschaft mit HIV infiziert, ist hingegen das Risiko, die Infektion noch vor der Geburt an das Kind weiterzugeben, bei Mädchen größer. Um die Gründe dafür zu verstehen, braucht es noch mehr Forschung.

Wie wirken sich die Unterschiede im Immunsystem bei Erwachsenen aus?

In unserer Gesellschaft am stärksten bei der Häufigkeit von Autoimmunerkrankungen, also von Erkrankungen, bei denen sich das Immunsystem gegen den eigenen Körper richtet. Die sind sozusagen die Kehrseite einer stärkeren Immunantwort. Krankheiten wie Multiple Sklerose, Schilddrüsenerkrankungen, Rheuma oder Lupus erythematodes treten viel häufiger bei Frauen auf als bei Männern, zum Teil sind mehr als 80 Prozent der Betroffenen weiblich.

Bei Veranstaltungen frage ich oft: Wer im Raum kennt einen Mann mit einer Autoimmunerkrankung? Da melden sich sehr wenige. Und wer im Raum kennt eine Frau mit einer Autoimmunerkrankung? Da gehen fast alle Hände hoch. Die Schwelle, bei der der Körper eine Immunantwort gegen sich selbst entwickelt, liegt offensichtlich bei Frauen niedriger als bei Männern.

Wie kommt das?

Wahrscheinlich haben sich all diese Geschlechterunterschiede in der Evolution entwickelt – wir sehen sie nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Mäusen und anderen Säugetieren. Es gibt dazu verschiedene Hypothesen. Die gängigste und auch aus meiner Sicht überzeugendste: Das stärkere Immunsystem von weiblichen Individuen hat sich entwickelt, weil es bei ihnen besonders wichtig ist, dass Infektionen schnell kontrolliert werden, damit ungeborene Kinder und Neugeborene, die ja ganz eng mit der Mutter zusammenleben, davor geschützt sind. Beim weiblichen Organismus ist demnach die Schwelle, an der das Immunsystem auf einen Reiz antwortet, niedriger. Den Vorteil dieser niedrigen Schwelle sehen wir bei vielen Infektionskrankheiten. Das höhere Risiko von Autoimmunerkrankungen ist der Preis, den die Evolution für den Nutzen der Infektionsabwehr bei der Reproduktion zu zahlen bereit war.

Zu Beginn der Covid-19-Pandemie hat man schnell bemerkt, dass Männer öfter schwere Verläufe erleiden als Frauen. Dafür bekommen Frauen häufiger danach Long Covid.

Ja, bei Covid-19 hat das viel Aufmerksamkeit bekommen. Diesen Kontrast zwischen dem akuten und dem chronischen Verlauf einer Infektionskrankheit kennen wir allerdings schon seit über 20 Jahren. Ende der 90er-Jahre haben Studien gezeigt, dass HIV-infizierte Frauen das Virus in der Primärphase der Infektion, also in den ersten Wochen bis Monate, erst mal besser kontrollieren als Männer. Sie haben also eine niedrigere Viruslast. In der chronischen Phase der Erkrankung schreiten dann aber die Entzündungsparameter und der Verlauf der Erkrankung bei Frauen im Verhältnis zur Viruslast schneller voran als bei Männern. Solche Unterschiede sieht man bei vielen Infektionskrankheiten, nicht nur bei viralen. Auch parasitäre Erkrankungen, etwa Amöben-Infektionen oder die durch Sandmücken übertragene Leishmaniose, verlaufen bei männlichen Organismen meist schwerer, einige bakterielle Erkrankungen wie Tuberkulose auch.

Was ist mit Krankheiten, die heute in unseren Breitengraden alltäglicher sind? Was ist mit grippalen Infekten, Stichwort "Männerschnupfen", oder Kinderkrankheiten?

Auch beim RS-Virus, das bei Kita-Kindern zu schweren Atemwegserkrankungen führen kann, sind die Verläufe bei Jungs schwerer als bei Mädchen. Bei simplen grippalen Infekten oder leichteren Kinderkrankheiten, mit denen man nicht unbedingt ins Krankenhaus geht, ist die Datenlage nicht so gut, weil größere statistische Untersuchungen eben vor allem in Krankenhäusern durchgeführt werden. Die besten Daten gibt es zu Impfungen.

Warum?

Weil man da genau weiß, dass alle Teilnehmenden die gleiche Dosis erhalten haben und auch, wann die Impfung gegeben wurde. Dadurch kann man genau untersuchen und gut vergleichen: einen Tag später, drei Tage später, sieben Tage später, zwei Monate später. Und da zeigt sich sehr klar, dass Frauen auch gegen die meisten Impfungen bessere Immunantworten entwickeln.

"Die Dosierungsschemata von Impfungen sind oft für Männer optimiert."

Prof. Dr. Marcus Altfeld


Sie haben nach kürzerer Zeit mehr Antikörper?

Ja, und die Antikörper bleiben auch länger erhalten. Studien haben allerdings gezeigt, dass Frauen oft auch stärkere lokale Impfreaktionen haben. Das sieht man, wenn man ganz objektive Kriterien anlegt wie die Größe der Rötung an der Einstichstelle.

Bekommen Männer demnach höhere Dosen von Impfstoffen als Frauen?

Nein, bisher berücksichtigt man in der Nutzung von Impfstoffen diese Geschlechterunterschiede nicht. Bei der Hepatitis-B-Impfung zum Beispiel kann man einen Antikörper-Titer bestimmen und so beurteilen, ob ein Mensch gegen Hepatitis B geschützt ist oder nicht. Da erreichen in Studien manche Frauen den Schwellenwert schon nach zwei Impfungen – aber trotzdem bekommen alle Menschen mindestens drei.

Klinische Studien wurden lange Zeit nur an Männern durchgeführt, auch heute sind unter den Teilnehmenden meistens mehr Männer als Frauen. Unsere Impfungen sind also wahrscheinlich vor allem ans männliche Immunsystem angepasst und für Frauen eigentlich überdosiert?

Um zu voneinander unabhängigen Ergebnissen für Männer und für Frauen zu kommen, müsste man die Studien vergrößern. Das ist natürlich teuer, deswegen scheuen sich Unternehmen davor. Und gerade bei Phase-1-Studien, also frühen Studien an Menschen, gibt es oft die Sorge, dass die getesteten Wirkstoffe Einfluss auf eine mögliche Schwangerschaft haben könnten. Die Zusammensetzung der Teilnehmenden ist also eine Abwägungssache und ein Versuch, Risiken zu reduzieren. Aber ja: Die Dosierungsschemata sind oft für Männer optimiert, und zumindest in späteren Phasen sollten Studien so angelegt werden, dass man die Wirkung je nach Geschlecht evaluieren kann.

Wenn aber zum Beispiel bei Hepatitis B die Unterschiede schon bekannt sind: Wäre es dann nicht sinnvoll, in den Impfschemata unterschiedliche Dosierungen je nach Geschlecht festzulegen?

Bei manchen Schlafmitteln gibt es mittlerweile solche unterschiedlichen Dosierungsempfehlungen, weil die Geschlechterunterschiede da sehr klar etabliert sind. Bei Impfungen aber ist unser Ziel, dass möglichst viele der Geimpften wirklich geschützt sind. Und dafür brauchen wir bei Hepatitis B diese drei Impfungen.

Wir wollen also, dass möglichst alle Männer geschützt sind, und nehmen dafür in Kauf, dass viele Frauen Impfreaktionen wie Schmerzen oder Fieber haben, die durch niedrigere Dosierungen vermeidbar wären?

Das Ganze ist ja nicht schwarz und weiß, sondern es gibt sowohl bei Männern als auch bei Frauen eine große Bandbreite. Man kann sich das vorstellen, wie zwei Kurven, die leicht zueinander verschoben sind, sich aber überlappen. Manche Frauen haben nach zwei Impfungen schon ausreichenden Schutz, aber manche brauchen drei. Und auch bei Männern ist es heterogen: Eine Studie zur Grippeimpfung hat gezeigt, dass Männer mit besonders hohen Testosteronspiegeln besonders niedrige Impfantworten hatten. Bei Frauen wiederum braucht es unbedingt mehr und bessere Studien dazu, ob der Zeitpunkt im Zyklus der Frau, an dem die Impfung verabreicht wird, einen Einfluss auf die Stärke der Immunantwort hat.

Gibt es nicht trotzdem bessere Lösungen, als die Unterschiede einfach ganz zu ignorieren?

Eine Alternative wäre, den Schritt hin zu personalisierten Impfstrategien zu machen. Das hieße, man misst bei allen Menschen nach der zweiten Hepatitis-B-Impfung die Funktion der Antikörper und entscheidet dann, ob sie noch eine dritte brauchen.

Was spricht dagegen?

Es ist sehr aufwendig, erfordert Blutabnahmen, und die Kosten würden daher extrem steigen. Von einem Public-Health-Standpunkt aus macht es daher wenig Sinn.

"Über das Immunsystem von intergeschlechtlichen und trans Menschen weiß man leider noch viel zu wenig."

Prof. Dr. Marcus Altfeld

Wir sprechen jetzt die ganze Zeit von Männern und Frauen. Was weiß man über das Immunsystem von Menschen, die weder in die eine noch in die andere Kategorie fallen, also intergeschlechtliche, non-binäre und trans Menschen?

Leider viel zu wenig. Da müssten viel mehr Studien stattfinden, das betrifft ja durchaus einen größeren Teil der Bevölkerung. Zu trans Menschen führt meine Arbeitsgruppe derzeit eine Studie durch, bei der wir die Immunantwort vor Beginn der Hormongabe und während der Hormongabe messen. Vor allem bei trans Männern, die Testosteron nehmen, zeigen erste Ergebnisse, dass sich Teile der Immunantwort verändern.

Sie werden schwächer?

Genau. Auch über das Immunsystem von Menschen mit Variationen der biologischen Geschlechtsentwicklung weiß man noch wenig. Also zum Beispiel über Menschen, die keinen Testosteronrezeptor haben; Menschen mit XXY-Chromosomen; X0, also Menschen, die nur ein X-Chromosom haben; oder Menschen mit Mosaikformen, bei denen manche Zellen XX und manche XY sind. Zu all diesen Gruppen und vielen weiteren innerhalb der intersexuellen Bevölkerung gibt es bisher sehr wenige detaillierte immunologische Untersuchungen und Daten. Das ist eine Lücke, die jetzt nach und nach gefüllt werden sollte.

Viele Menschen versuchen, ihr Immunsystem zu stärken, um Krankheiten vorzubeugen. Gibt es Geschlechterunterschiede auch in der Frage, wie man seine Immunantwort fördern kann?

Dazu ist noch zu wenig bekannt, daher gelten für alle dieselben allgemeinen Maßnahmen: gesunde Ernährung, Bewegung, Übergewicht vermeiden. Übergewicht ist ein wichtiger Risikofaktor für viele Infektionskrankheiten, weil es mit einem veränderten Zuckerspiegel und einem erhöhten Risiko für Erkrankungen wie Diabetes einhergeht und diese Dinge die Immunantwort schwächen – ganz unabhängig vom Geschlecht.

Was ist mit Vitamintabletten?

Die machen nur Sinn, wenn wirklich ein Mangel besteht – und einen allgemeinen Vitaminmangel hat in unseren Breitengraden kaum ein Mensch, der sich ausgewogen ernährt. Wer einen Verdacht auf Vitaminmangel hat, sollte das am besten mit seinem Hausarzt oder seiner Hausärztin besprechen.

Wir haben auch über Autoimmunerkrankungen gesprochen, die Frauen besonders häufig treffen. Kann man etwas tun, um solchen Krankheiten vorzubeugen?

Für Autoimmunerkrankungen gibt es noch keine guten Präventionsansätze, weil wir bei vielen dieser Krankheiten noch immer nicht genau verstehen, was sie eigentlich auslöst. Da müssen wir erst einmal die dahinterliegenden Prozesse im Immunsystem besser verstehen.

Verwendete Quellen

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