Nach der großen Katastrophe in Fukushima riskierten viele Menschen ihre Gesundheit und sogar ihr Leben dafür, die Folgen des Unglücks in Grenzen zu halten. Sie setzten sich der starken radioaktiven Strahlung aus, um die Sicherungs- und Aufräumarbeiten vor Ort durchzuführen. Was ist aus diesen Arbeitern geworden?

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Vor fünf Jahren, am 11. März 2011, ereilte Japan die Dreifachkatastrophe: Erdbeben, Tsunami und als Folge die Havarie des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi. Das hochentwickelte, hochtechnisierte und hocheffiziente Land versank in Trauer, Chaos und Ungewissheit. Besonders die Ereignisse rund um das Atomkraftwerk hielten die ganze Welt in Atem.

Stand der Super-Gau, die atomare Verseuchung der Gegend, auch des Großraums Tokio, unmittelbar bevor? Die Informationspolitik der Betreiberfirma Tepco, Tokyo Electric Power Company, und der japanischen Regierung war unmittelbar nach dem Unglück wenig vertrauenserweckend. Nur ausweichend wurde auf Fragen geantwortet, vieles blieb ungewiss. Der Umgang mit der Katastrophe erinnerte auf verstörende Weise an die Informationspolitik der Verantwortlichen des Tschernobyl-Unglücks von 1986. Damals wurde das Risiko für die Menschen kleingeredet, beunruhigende Befunde wurden vertuscht.

Was passierte im Atomkraftwerk Fukushima?

Wenig von dem, was in Fukushima in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten vor sich ging, drang als gesicherte Information nach außen. Es dauerte lange, bis Tepco schließlich eingestand, dass in drei Reaktoren Kernschmelzen eingetreten waren.

Was die Weltöffentlichkeit jedoch schon kurz nach der Katastrophe zu sehen bekam, waren die Aufnahmen von Männern auf dem Gelände des Kernkraftwerkes. Sie waren in weiße Schutzanzüge mit Kapuze gehüllt, trugen Mundschutz und hatten die Mission, eine Nuklearkatastrophe unvorstellbaren Ausmaßes zu verhindern, koste es, was es wolle. Notfalls auch das eigene Leben.

Wer waren die "Fukushima 50"?

Mit Taschenlampen ausgestattet arbeiteten sie sich unter schwersten Bedingungen durch die finstere, labyrinthische Ruine der Anlage. Explosionen und Brände erschwerten die Arbeit. Sie waren, abgeschnitten von ihren Familien und unzureichend versorgt mit Wasser und Nahrung, auf sich alleine gestellt. Nur unterstützt von Militärhubschraubern, die aus der Luft Wasser auf die Reaktoren schütteten und der Feuerwehr, die sich ebenfalls um Kühlung bemühte. So kämpften sie gegen die Zeit und gegen die radioaktive Strahlung, einem mächtigen und schwer einschätzbaren Gegner.

Ausländische Medien gaben diesen Arbeitern den Namen "Fukushima 50". Es scheint jedoch, als hätten die meisten von ihnen ihre Schutzkleidung bis heute nicht abgelegt: Weder die Namen, noch die Gesichter und erst recht nicht die Geschichten der meisten der Männer ist bekannt, die in diesen dramatischen Tagen noch Schlimmeres verhinderten.

Japan tut sich schwer mit seinen Helden

Man stelle sich für einen kurzen Moment hypothetisch vor, die Katastrophe hätte sich in Deutschland ereignet, das Worst-Case-Szenario stünde unmittelbar bevor und mutige Männer, die nicht wissen, ob sie den Einsatz überstehen und mit welchen Langzeitfolgen sie rechnen müssen, riskieren ihr Leben zum Wohle der Allgemeinheit. Das Bundesverdienstkreuz wäre ihnen wohl genau so sicher, wie frenetisch beklatschte Auftritte in jedem Jahresrückblick der Republik sowie ewige Verehrung und Dankbarkeit. Nicht so in Japan.

Masoao Yoshida, der anerkannte Held von Fukushima

Der einzige dieser Männer, den die Japaner in den Heldenstatus erhoben haben, ist Masoao Yoshida. Er war im März 2011 Leiter des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi und damit der Chef der "Fukushima 50". Er starb 2013 im Alter von 58 Jahren an Speiseröhrenkrebs, einer Erkrankung die laut Tepco angeblich nicht im Zusammenhang mit seiner Arbeit im AKW Fukushima stand. Ohne Yoshida, so die Einschätzung der Japaner, wäre der Großraum Tokio heute wohl unbewohnbar. Zu seiner Erhebung in den Heldenstatus hat ein für Japaner sehr untypisches Verhalten geführt: Masoao Yoshida widersetzte sich am 12. März 2011 den Anweisungen der Zentrale, die Kühlung der Reaktoren mit Meerwasser vorübergehend zu stoppen. Anschließend arbeitete er noch neun Monate lang in der Strahlenhölle, bis ihn seine Erkrankung zum Aufgeben zwang.

Die namenlosen Helden Japans

Doch wer waren die "Fukushima 50", die von der Presse auch "Japans Himmelfahrtskommando", "Nukleare Samurai", "Die 50 Wegwerfarbeiter", "Das letzte Aufgebot", oder die "50 Todeskandidaten" getauft wurden? Und wie geht es ihnen heute? Viel ist nicht über sie bekannt, Tepco weigert sich, ihre Namen preiszugeben. Und die Informationen sind widersprüchlich. Manche Quellen sprechen davon, dass 50, manche davon, dass 70 der circa 800 Tepco-Mitarbeiter freiwillig zurückblieben.

In den ersten Tagen, nachdem die Tsunami-Wellen über das Kernkraftwerk hereingebrochen waren, kamen schnell zahlreiche weitere Arbeiter hinzu, auch von Partnerfirmen. Es waren Ingenieure, Techniker, einfache Angestellte und Soldaten, die Japan vor einer noch größeren atomaren Katastrophe bewahren sollten. Die japanische Regierung dankte ihnen den Einsatz auf ihre ganz eigene Weise: Sie erhöhte die zulässige Strahlenbelastung für die Arbeiter von 100 auf 250 Millisievert.

Die Legende von den "Fukushima 50" entstand vermutlich auch, weil die Männer in Schichten von jeweils 50 Männern arbeiteten. Wegen der hohen Strahlenbelastung durften sie maximal 15 Minuten am Stück im Einsatz sein. Insgesamt wurden im Laufe der Jahre circa 25.000 Menschen zur Bewältigung der Katastrophe eingesetzt, unter ihnen auch Obdachlose, die für wenig Lohn die Aufräumarbeiten leisten sollten.

Die gesundheitlichen Folgen für die "Fukushima 50"

Die Langzeitfolgen für viele der Arbeiter sind schwer abschätzbar. Unmittelbar nach der Katastrophe wurden einige von ihnen schwer verstrahlt, andere brachen im Einsatz vor Erschöpfung zusammen oder erlitten einen tödlichen Herzinfarkt. Einige Krebsfälle sind inzwischen bekannt. Was genau die gesundheitlichen Folgen für die Arbeiter von Fukushima sein werden, wird die Öffentlichkeit vermutlich nie erfahren. Von den psychischen ganz zu schweigen.

Das kollektive Verantwortungsgefühl der Japaner

Warum meldeten sich die "Fukushima 50" angeblich freiwillig zum Einsatz? Das Klischee von der Kamikaze-bereiten Selbstlosigkeit der Japaner, das in diesem Zusammenhang oft bemüht wurde, ist wenig hilfreich. Fakt ist jedoch, dass es in Japan ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl gegenüber dem Kollektiv gibt.

Auch die Unberechenbarkeit der Naturgewalten, denen sich Japan Zeit seiner Geschichte ausgesetzt sah, mag zu einer Art Schicksalsergebenheit bei Katastrophen geführt haben. "Shikata ga nai", "es ist nicht zu ändern", lautet ein geflügeltes Wort. Schließlich: Das Wissen um die Vergänglichkeit alles irdischen Seins ist in kaum einer Kultur so ausgeprägt, wie in der japanischen. Kann das schon als Erklärung genügen?

Die Japaner und ihre Unternehmen

Antworten sind auch in der Arbeitskultur zu finden. Üblicherweise arbeiten Japaner ein Leben lang für dasselbe Unternehmen und fühlen sich ihm stark verbunden. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass bei der Vorstellung oft zuerst der Name der Firma und dann der eigene genannt wird. Zwar kommt der "Karoshi", der Tod durch Überarbeitung, der im Japan der 80er Jahre traurige Realität war, heute wesentlich seltener vor, tatsächlich ist es aber noch immer üblich, mindestens so lange im Büro zu bleiben, wie der Chef.

Es ist auch kein Klischee, dass der durchschnittliche japanische Arbeitnehmer seinem Unternehmen aus Verbundenheit noch immer einen Teil seines Urlaubs schenkt. Nahmen die "Fukushima 50" aus Loyalität zu Tepco den gefährlichen Einsatz auf sich?

Warum ist das Interesse der japanischen Öffentlichkeit an den Männern so gering?

Die hohe Identifikation des Einzelnen mit seinem Unternehmen hat nach der Katastrophe von Fukushima zu einer Stigmatisierung der Tepco-Arbeiter geführt. Für viele Japaner sind sie ein Teil des in Ungnade gefallenen Unternehmens, haben jahrelang sehr hohe Löhne bezogen und letztlich nur ihre Pflicht getan, wie es die Atom-Gegnerin Seiko Takahashi in einem Interview mit der BBC aus im Jahr 2013 formulierte.

Statt Ehre und Wertschätzung erfahren die Männer oft sogar Ausgrenzung: Einige wurden bei der Wohnungssuche benachteiligt oder mit "Tepco Raus"-Zetteln zu vertreiben versucht. Psychologen, die sich der Tepco-Männer angenommen hatten, sprachen davon, dass viele schwer traumatisiert waren und von Schuldgefühlen geplagt wurden. "Seit der Katastrophe habe ich mich nie mehr gut gefühlt", berichtete ein Arbeiter, der anonym bleiben wollte, 2013 in einem seltenen Interview mit der BBC. "Selbst wenn ich mit Freuden unterwegs bin, bin ich nicht glücklich. Wenn Menschen über Fukushima sprechen, dann fühle ich mich verantwortlich."

Tepcos Verhältnis zu den Arbeitern

Die Unternehmensleitung von Tepco hat 18 Monate gebraucht, um sich offiziell bei ihren Arbeitern zu bedanken. Die meisten von ihnen arbeiten noch heute für das Unternehmen. Wegen Unterschlagung ihrer Gefahrenzulagen zogen 2014 erstmals Arbeiter gegen die Firma vor Gericht. Im Oktober 2015 verklagte ein Arbeiter das Unternehmen, da er nach Aufräumarbeiten an mehreren Krebsarten erkrankte.

Der Großteil jedoch bleibt stumm und anonym. Die wenigen Aussagen, die von Arbeitern in Interviews überliefert sind, lassen leise Zweifel daran aufkommen, dass damals wirklich alle freiwillig in den Einsatz gingen. Tepco jedenfalls hat kein Interesse daran, die Anonymität der Männer aufzuheben. Und so bleiben sie Japans stumme Helden.

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