• Die Regierung in Wien hat die Corona-Beschränkungen immer wieder voreilig gelockert und die Warnungen von Experten ignoriert.
  • Das rächt sich nun - Österreich muss erneut in den Lockdown.
  • Die Alpenrepublik ist ein mahnendes Beispiel für Deutschland.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Wolfgang Rössler sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Als der Wiener Musiker und Lokalpolitiker Marco Pogo im Sommer einen Auftritt in Berlin absolvierte, war er überrascht: In der deutschen Metropole wurde die Maskenpflicht deutlich strenger gehandhabt als in Österreich. Auch das Contact tracing wurde viel ernsthafter betrieben.

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Vielleicht, glaubt er, werde Corona Deutschland im zweiten Herbst nach Ausbruch der Pandemie doch nicht ganz so hart erwischen wie die Nachbarn in der Alpenrepublik. Dort explodieren die Corona-Zahlen, Kliniken bereiten sich auf Triagen vor, Österreich geht erneut in den Lockdown. Und das, glaubt Pogo, sei maßgeblich auf den österreichischen Schlendrian zurückzuführen. "Nun ist in Wirklichkeit nur noch Schadensbegrenzung möglich. Wir können bloß die Augen schließen und hoffen, dass uns in ein paar Wochen nicht alles um die Ohren fliegt", sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion.

Pogo kreidet Versäumnisse an

Marco Pogo, der mit bürgerlichem Namen Dominik Wlazny heißt, ist in Österreich vor allem als Gründer der Wiener "Bierpartei" bekannt. Mit der Forderung nach einem Bierbrunnen hat er es im Vorjahr ins Bezirksparlament von Wien Simmering geschafft. Als Musiker füllt der 35-Jährige mit Trinkliedern Konzerthallen. Weniger bekannt ist, dass er auch Arzt ist, der sein Studium mit einer Arbeit über die medikamentöse Behandlung von Lungenentzündungen abgeschlossen hat. Unbemerkt von der Öffentlichkeit hat er im Sommer einige Tage freiwillig in Impfstraßen gearbeitet.

Seither zeigt er sich immer öfter von seiner ernsten Seite. Er wird nicht müde, Versäumnisse anzukreiden, mit deren Auswirkungen er als freiwilliger medizinischer Helfer immer wieder konfrontiert ist. Und die dazu geführt haben, dass Österreich derzeit ein Corona-Hotspot ist – mit Sieben-Tages-Inzidenzen, die in einigen Regionen mehr als 1.500 Infizierte pro 100.000 Menschen betragen, überfüllten Krankenhäusern und Operationen, die verschoben werden müssen, um Platz für COVID-19-Kranke auf Intensivstationen zu schaffen.

Österreich rutscht in den Lockdown

Bereits am Donnerstag waren die Bundesländer Salzburg und Oberösterreich mit der Ankündigung regionaler Lockdowns vorgeprescht. Besonders stark betroffen ist laut dem Salzburger Landeshauptmann Wilfried Haslauer von der konservativen ÖVP die junge Generation: "Wir haben in den Schulen extreme Entwicklungen – bei den Fünf- bis 15-Jährigen liegt die Inzidenz bei 2.500 und steigt weiter." Am Freitag dann die Entscheidung: Das ganze Land geht in den Lockdown, im Februar wird eine Impfpflicht eingeführt.

Schon seit Wochen hatten Fachleute gewarnt, dass es zu einem Kollaps des Gesundheitssystems kommen könnte. Nun zeichnet sich in Salzburger Spitälern eine Triage ab: Dann müsse Ärztinnen und Ärzte im Zweifel entscheiden, welche Schwerkranken angesichts der begrenzten Ressourcen eine realistische Aussicht auf Heilung haben und welche praktisch aufgegeben werden, weil Personal und medizinische Infrastruktur fehlt.

Und das, obwohl in Österreich seit Anfang des Jahres Impfungen angeboten werden, die in den allermeisten Fällen gegen einen schweren Verlauf schützen. Aber die Skepsis in der Bevölkerung gegen die Immunisierung ist hoch. Herbert Kickl, Chef der rechtspopulistischen FPÖ, die in Umfragen deutlich über 20 Prozent liegt, mobilisiert seit Monaten dagegen und empfiehlt das Entwurmungsmittel Ivermectin als Medizin bei einer Infektion. Nun muss er selbst wegen Corona das Haus hüten. Allerdings hat Kickl Medienberichten zufolge einen milden Verlauf.

Eine andere Erkrankte in der Steiermark hat es ärger erwischt. Sie nahm wie von Kickl empfohlen Ivermectin und landete wegen Überdosierung auf der Intensivstation. Rechtspolitiker Kickl sieht dennoch keinen Grund, von seinem Kurs abzuweichen. Und er hat Erfolg damit: Die Impfskepsis in Österreich ist hoch.

Nachlässigkeit bei der Impfkampagne zeichnet sich ab

Dabei seien die Impfungen in Österreich gut angelaufen, als der Impfstoff im Frühjahr noch Mangelware war, analysiert der Mediziner Pogo: "Damals kamen vor allem Ältere, die heilfroh waren, dass sie eine Spritze bekommen." Danach habe der Zulauf aber merkbar nachgelassen. Die Regierung habe es nicht geschafft, den Ernst der Lage zu vermitteln. Dazu sei der Trugschluss gekommen, dass die Krankheit für Jüngere weitgehend ungefährlich sei: "Man hat immer nur von den Alten, Kranken und Immunsupprimierten gesprochen. Dabei müssen jetzt in Österreich schon 30-Jährige auf der Intensivstation künstlich beatmet werden."

Tatsächlich liegt die Quote der vollständig Geimpften mit 64,8 Prozent in Österreich unter jener in Deutschland (67,7). Vor allem in der jüngeren Generation seien Vorbehalte stark, erzählt Pogo aus eigener Erfahrung. Bei einem seiner Konzerte im Sommer griff er selbst zur Spritze, um Fans zu immunisieren. "Das war im August, als jeder, der es wollte, bereits eine Impfung hätte haben können", sagt er. Ein Konzertbesucher habe ihm damals gesagt: "Ich bin eigentlich ein Impfskeptiker. Aber von meinem Idol lasse ich mich impfen." "Immerhin", meint der Musiker.

Er sieht ein klares Versäumnis der konservativ-grünen Koalition in Wien, die populistischer agiert hätte als die Bundesregierung in Berlin. "Sobald die Politik eine Möglichkeit sah, eine ungeliebte Maßnahme zu lockern, hat sie das sofort getan. Man hat die Zügel möglichst locker gehalten, um sich den Applaus der Bevölkerung zu holen", kritisiert er. Noch in der Vorwoche hatte sich der Salzburger Landeshauptmann Haslauer über Virologen lustig gemacht, denen es "am liebsten wäre, wenn jeder in ein Zimmer eingesperrt wird, weil da kann er sich nicht anstecken und niemanden infizieren". Nun musste der Politiker selbst einen Lockdown verkünden.

Was heißt das für Deutschland?

Könnte die katastrophale Lage in Österreich dennoch ein Vorbote darauf sein, was Deutschland in einigen Wochen blüht? Seit Monaten warnten Expertinnen und Experten in Österreich davor, dass die Herbstwelle das Land voll treffen könnte. Doch die Regierung in Wien wiegte die Bevölkerung in Sicherheit: Noch im September erklärte der mittlerweile zurückgetretene Kanzler Sebastian Kurz die "Pandemie für Geimpfte für beendet."

Ein fataler Trugschluss, wie sich jetzt zeigt. Corona ist noch lange nicht am Ende – weder in Österreich noch anderswo. "Das Virus spielt mit uns Katz und Maus", sagt Marco Pogo.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Marco Pogo, Musiker, Lokalpolitiker und Mediziner

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