- In keinem anderen Bundesland ist die Sieben-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohnern seit Längerem so hoch wie in Sachsen.
- Mediziner sehen die Kliniken an der Grenze des Machbaren.
- Und sie äußern ihren Unmut sowohl über die Menschen im Freistaat, die sich nicht an die Corona-Regelungen halten, als auch über die Behörden, die nicht entschieden handelten.
In ganz Deutschland stagniert die Zahl der Corona-Neuinfektionen, die sich weiterhin auf einem hohen Niveau bewegen. In Hamburg, Berlin oder Nordrhein-Westfalen sinken die Zahlen sogar. Doch es gibt ein Bundesland, dessen Entwicklung völlig anders verläuft: Nirgends breitet sich derzeit die Pandemie so schnell aus wie in Sachsen.
Das ostdeutsche Bundesland weist am Freitag laut Daten des Robert-Koch-Instituts die mit weitem Abstand höchste Sieben-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohnern auf: 276 – mehr als doppelt so viel wie der deutschlandweite Schnitt. Sechs der insgesamt dreizehn Landkreise weisen eine Inzidenz von über 300 auf, drei sogar über 400. Aus Mangel an Kapazitäten hat das Städtische Klinikum Dresden vorerst die Aufnahme von weiteren Corona-Patienten gestoppt.
Die Fallzahlen sind in Sachsen in allen Altersgruppen "leider sehr deutlich" gestiegen, sagte RKI-Infektionsepidemiologie Ute Rexroth am Donnerstag auf einer Pressekonferenz. Die Entwicklung sei "schon ein bisschen besorgniserregend", man beobachte die Lage genau, schob Rexroth nach.
Warum sind die Zahlen in Sachsen so anders? Und wie reagiert der Freistaat auf die Entwicklung?
Schaper: "Das medizinische Personal arbeitet an der Grenze"
"Sachsens Gesundheitswesen kommt langsam aber sicher in eine Notlage", sagt Susanne Schaper im Gespräch mit unserer Redaktion. Schaper ist die Vorsitzende des sächsischen Linken-Landesverbandes sowie gesundheitspolitische Sprecherin der Landtagsfraktion der Partei. Und sie arbeitete seit 1998 als Krankenschwester: "Das medizinische Personal arbeitet an der Grenze, ehemalige Kollegen klagen über Überforderung", berichtet sie am Telefon.
Schaper betont: "Der Patientenschlüssel auf Intensivstationen war schon immer schlecht. Die Pandemie zeigt diesen seit Jahrzehnten bestehenden Missstand nun besonders drastisch." Dazu kommt, dass Sachsens Bevölkerung wie in den anderen ostdeutschen Bundesländern überaltert ist.
Noch gebe es Schaper zufolge freie Betten und noch könnten Patienten vom einen in den anderen Landkreis verlegt werden. Allerdings würden schon jetzt geplante Eingriffe und Operationen so weit es geht verschoben. Das bestätigt auch die Ärztegewerkschaft Marburger Bund Sachsen, die 5.500 Krankenhausärzte in dem Bundesland vertritt.
Sachsens Sozialministerium erklärte auf Anfrage unserer Redaktion: "Die Gefahr, dass nicht mehr genügend Betten zur Verfügung stehen, ist real. Im Moment funktioniert aber die regionale Verteilung von Patienten. Auch die Aktivierung von Reha-Kliniken wird derzeit vorbereitet, sodass hier weiter Platz geschaffen wird."
Fehlende Konsequenz – seitens der Behörden und der Bürger
Der Marburger Bund übt derweil scharfe Kritik, sowohl an jenen Menschen im Freistaat, die sich nicht an die Schutzverordnung halten, als auch an den Behörden, die nicht entschieden handelten. Es sei "unverständlich", dass die "politisch Verantwortlichen in den Landkreisen so zögerlich konsequent die bestehenden Infektionsschutzregeln umsetzen und damit eine weitere Verschärfung der Maßnahmen provozieren", heißt es in einer Pressemitteilung von Donnerstag.
Darin wird auch deutlich, dass teilweise noch immer an persönlicher Schutzausrüstung für Mediziner und Pfleger gespart wird. Bereits im Mai hatte unsere Redaktion über das bundesweit bestehende Problem berichtet.
Corona-Pandemie: Kretschmer macht Ernst
Angesichts der prekären Corona-Situation in Sachsen macht Linken-Politikerin Schaper sowohl der schwarz-grün-roten Landesregierung als auch der Bundesregierung schwere Vorwürfe: "Beide reden über Verschärfungen, ohne den Sinn zu erklären. Es mangelt an Transparenz, es fehlt an Abstimmung und die Maßnahmen sind wenig schlüssig."
Sie verweist auf den Landkreis Bautzen: Dort habe die Inzidenz wochenlang über 200 gelegen, es sei aber nichts weiter passiert. "Man hat lange einfach nur zugeschaut. Jetzt und viel zu spät und zu unschlüssig hat man reagiert", kritisiert Schaper. "Die Menschen sollen Kontakte meiden – aber der öffentliche Nahverkehr und die Schulbusse sind weiter voll, das passt nicht zusammen."
Aufgrund der hohen Fallzahlen sah sich Sachsens Ministerpräsident
Kretschmer zufolge befördert nachlässiges Verhalten die weitere Ausbreitung des Coronavirus trotz des geltenden Teil-Lockdowns im Freistaat. "Es liegt daran, dass wir zu viele Kontakte haben und zu viel Unachtsamkeit insgesamt", sagte er. Die gemütlichen Runden mit einem Bier oder Wein mit Menschen, mit denen man täglich und mit Abstand zu tun habe. "Wir müssen versuchen, das zu unterbinden", mahnte der Regierungschef. Es brauche ein "Umdenken".
Sachsens Sozialministerium mahnt in der schriftlichen Stellungnahme an unsere Redaktion: "Nur weil gewisse Dinge nicht explizit verboten seien (z.B. Skiurlaub im benachbarten Tschechien), bedeutet dies nicht, dass davon keine Gefahr ausgeht."
Mehr Appelle und mehr Kontrollen
Falls die Corona-Infektionszahlen bis Weihnachten nicht sinken, will Landeschef Kretschmer Kindergärten und Schulen nach den Feiertagen schließen.
Seitens der sächsischen Landesregierung gebe es aber keine Überlegungen dem Beispiel Berlins zu folgen, hieß es aus der Staatskanzlei auf Anfrage unserer Redaktion.
Die Hauptstadt hatte bereits vergangene Woche als bisher einziges Bundesland beschlossen, die von Bund und Ländern verabredeten Lockerungen bei den Kontaktbeschränkungen für private Treffen über Weihnachten und Silvester nicht umzusetzen. Sachsen setzt demnach weiter auf Appelle an die eigenen Bürger. Die Einhaltung der Beschränkungen soll laut Sozialministerium schärfer kontrolliert werden.
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