Die Schlagzeilen über Messerangriffe reißen nicht ab. Kaum vergeht ein Tag ohne Messerattacke, so der Eindruck. Doch bestätigt die Statistik das auch? Zwei Experten erklären, warum in immer mehr Hosentaschen Messer mitgeführt werden und was die Migrationspolitik mit dem Thema zu tun hat.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Solingen, Mannheim, Wuppertal und zuletzt Siegen – alles Orte, die mit Messerattacken zuletzt bundesweit Schlagzeilen gemacht haben. Die Liste ließe sich fortführen – allein auf der Seite der "Tagesschau" sind unter der Rubrik "Messerangriffe" mehrere Seiten an Nachrichten aufgelistet.

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Der Eindruck, der sich da aufdrängt: Übergriffe mit Messern gehören inzwischen zum Alltag in Deutschland. "Man hat tatsächlich das Gefühl, dass Messerattacken zunehmen", sagt der Sprecher des Kinderhilfswerks Arche, Wolfgang Büscher.

Rund 1.500 Attacken mehr

Die Statistik bestätigt dieses Gefühl: Seit Messerangriffe im Jahr 2020 erstmals in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfasst wurden, sind die registrierten Zahlen gestiegen. Allein von 2022 auf 2023 wurden rund 1.500 Attacken mehr gemeldet, die Zahl wuchs von 12.355 auf 13.844.

Allerdings wurde auch die Meldestatistik, die Messerangriffe erfasst, ausgeweitet: um gefährliche und schwere Körperverletzung sowie Raub. Laut Statistik handelt es sich in knapp 90 Prozent der Angreifer um Männer, überwiegend sind es Erwachsene über 21 Jahre. Als Grund für die zunehmenden Delikte führt das BKA weggefallene Corona-Beschränkungen, die angespannte wirtschaftliche Lage und die Migration an.

Ausländer überrepräsentiert

Tatsächlich sind Ausländer unter den Tatverdächtigen überrepräsentiert. In Baden-Württemberg sind beispielsweise etwa 55 Prozent keine deutschen Staatsbürger, in Sachsen-Anhalt sind es 35 Prozent und in NRW knapp 47 Prozent.

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Das muss nicht bedeuten, dass Ausländer krimineller sind. Was aber schon auffällt: Bei den Tatverdächtigen liegen häufiger kriminalitätsfördernde Faktoren wie Armut, geringe Bildung, kriminelle Freundeskreise sowie eigenes Gewalterleben und gewaltverherrlichende Männlichkeitsnormen vor.

Messer als Selbstschutz

Sabine Nowara ist Rechtspsychologin. Aus ihrer Sicht verstärkt die Berichterstattung den Eindruck, dass es immer mehr Messerattacken gibt, zusätzlich. Sie glaubt nicht an unmittelbare Nachahmungseffekt, fürchtet aber: "Indirekt steigt das Risiko eben schon." Denn wegen des Gefühls, dass Messerattacken zunehmen, würden auch mehr Menschen Messer mit sich führen, so Nowara.

Insbesondere Männer würden dies mit der Chance auf Selbstverteidigung rechtfertigen. Allein das Tragen einer Waffe steigere aber bereits das Risiko, sie auch zum Einsatz zu bringen – nicht nur zum Selbstschutz. Kriminologen führen den größten Teil der Messerkriminalität inzwischen auf das "ungeplante Mitführen" solcher Waffen zurück.

Hemmschwelle gesunken

Natürlich müsse damit auch eine gewisse Gewaltbereitschaft einhergehen, sagt Expertin Nowara. Und die sei definitiv gestiegen.

Zugleich seien die Hemmschwellen gesunken: "Früher gab es bei Schlägereien so etwas wie ungeschriebene Gesetze: Wenn jemand auf dem Boden lag, war Schluss und es wird nicht auf den Kopf getreten. Heute scheint das nicht mehr zu gelten. Da hat sich qualitativ etwas verändert", beobachtet sie.

Messer gegen Netflix-Abo tauschen?

Das Problem, so Nowara: "Die Verfügbarkeit von Messern ist hoch und schon mit relativ kleinen Messern kann man sehr viel Unheil anrichten." Wolfgang Büscher kann dies bestätigen. "Die Jungs haben heutzutage ein Messer dabei, um schneller zu sein als der, der einen möglicherweise angreift", sagt er.

Die Gewerkschaft der Polizei hat angeregt, die Messer gegen ein kostenloses Netflix-Abo einzutauschen. "Wir haben das mit unseren Jugendlichen besprochen, die haben nur gelacht und gesagt: Dann kaufe ich mir zwei Messer und gebe eins davon ab", berichtet Büscher.

Gefährliche Ballungszentren

Aus seiner Sicht steuert Deutschland auf ein Desaster zu, wenn sich nichts ändert. "Gerade Jugendliche mit Fluchterfahrung werden an die Ränder der Stadt abgeschoben", beklagt er. Dort käme es zu Ballungsgebieten mit über 90 Prozent Migrationsanteil, was sich auch in den Schulklassen widerspiegele.

Eine hochgefährliche Dynamik, so Büscher. Diese Jugendlichen würden nicht richtig integriert, hätten keine deutschen Freunde, lernten die Sprache nicht. "Sie fühlen sich alleingelassen."

"Wenn wir uns um diese Menschen nicht kümmern, tun es andere."

Wolfgang Büscher, Pressesprecher Die Arche

In Berlin habe unlängst ein berüchtigter Clan-Chef Jugendliche zum kostenlosen Burgeressen in den Park eingeladen. "Dort hat er ihnen gesagt: 'Wenn die euch nicht wollen, bei uns seid ihr herzlich willkommen'." Das bedeute, warnt Büscher: "Wenn wir uns um diese Menschen nicht kümmern, tun es andere." Hinzu komme eine Radikalisierung auf TikTok.

Falsche Versprechen

"Wir haben Jugendliche bei uns, denen hat man über die Schlepperbanden in ihrem Herkunftsland ein eigenes Haus in Deutschland versprochen, einen tollen Schulplatz und so weiter. Und dann kommen sie in katastrophale Wohnverhältnisse, gehen geballt auf die Schulen – das führt zu Frust", schildert Büscher.

Seine Forderung daher: Ein Verteilungssystem, das für eine Entzerrung an den Brennpunkt-Schulen sorgt. Das sei durchaus praktikabel. Eine Bekannte aus Berlin-Dahlem habe ihn kürzlich gefragt, ob es nicht ein paar syrische Kinder gäbe, die die dortige Privatschule besuchen wollten. Die Eltern seien sogar bereit gewesen, die Kosten zu übernehmen, damit ihre Kinder nicht so weltfremd aufwachsen.

"Wir müssen Mischgebiete schaffen."

Wolfgang Büscher, Pressesprecher Die Arche

"Wir dürfen keine Häuser bauen und diese zu 100 Prozent mit Flüchtlingen besetzen. Wir müssen Mischgebiete schaffen", fordert Büscher. Nur so könne Integration gelingen. Entweder man kümmere sich um die Menschen kümmern richtig – oder müsse sich eben eingestehen, dass es nicht mehr geht. Deutschland, da ist er sich mittlerweile sicher, sei an genau diesem "Kipp-Punkt" angelangt.

Über die Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Sabine Nowara ist Rechtspsychologin und lehrt an der Universität zu Köln. Außerdem ist sie als Gutachterin tätig.
  • Wolfgang Büscher ist Pressesprecher des christlichen Kinder- und Jugendwerks Die Arche.

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