Messerattacken wie in Mannheim oder Wolmirstedt schockieren die Republik. Die Frage, die häufig gestellt wird, lautet: Nimmt Messergewalt zu? Oder ist die mediale Präsenz schlicht höher? Wir werfen einen Blick auf die Zahlen und haben mit Experten gesprochen.

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In Wolmirstedt in Sachsen-Anhalt haben sich am 14. Juni Nachbarn in einem Hinterhof zu einer EM-Party getroffen – das erste Spiel der deutschen Mannschaft gegen Schottland steht an. Gegen 21 Uhr attackierte plötzlich ein Mann die Feiernden und verletzte drei Menschen, zwei davon schwer, wie das ZDF berichtete. Zuvor hatte er bereits einen Mann getötet.

Am vergangenen Freitag hat nach Informationen des Hessischen Rundfunks ein Mann einen anderen vor einem Frankfurter Vereinsheim angegriffen. Und drei Tage später, am vergangenen Montag, ging ein Mann in einer Düsseldorfer Unterkunft für Wohnungslose auf zwei Frauen los, wie "t-online" berichtete.

Bei allen drei Taten verwendete der Täter ein Messer. Auch beim mutmaßlich islamistisch motivierten Anschlag von Mannheim am 31. Mai, bei dem der Polizist Rouven L. getötet wurde, kam ein Messer zum Einsatz. Seitdem kocht in Deutschland die Diskussion über Messerkriminalität und -gewalt wieder hoch. Doch wie sehen die Zahlen dazu aus?

Umfassende Statistik erst ab kommendem Jahr

Laut Kriminalitätsstatistik lag die Zahl der Messerangriffe, die eine gefährliche und schwere Körperverletzung darstellten, im Jahr 2023 bei 8.951. Im Jahr davor waren es 791 Fälle weniger. Messerangriffe, die 2023 als Raubdelikte aufgeführt waren, gab es 4.893 – 698 Fälle mehr als im Jahr zuvor. Zum Vergleich: Insgesamt gab es in Deutschland im Jahr 2023 etwa 5,9 Millionen Straftaten. Aber wie sind nun diese Zahlen zu interpretieren?

Weil solche Daten erst seit kurzem erfasst würden, sei eine wissenschaftlich fundierte Aussage zu langfristigen Entwicklungen nicht möglich, erklärt Martin Rettenberger, Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden. Kurzfristige Veränderungen seien nicht aussagekräftig, weil es sich dabei auch um Schwankungen handeln könne, die nicht unbedingt verlässliche Trends darstellen würden.

Laut Bundeskriminalamt werden Zahlen zu Messerangriffen erst seit 2020 erfasst. Zu Tatverdächtigen können dabei keine Angaben gemacht werden. Denn bisher würden immer alle Beteiligten eines solchen Verbrechens erfasst – auch unbewaffnete Tatverdächtige. Daher ist eine rückblickende Analyse in der Statistik zu den Tätern mit Messer nicht möglich. Einheitliche Qualitätsstandards existieren erst seit Januar 2024, sodass ausführliche und vergleichbare Zahlen zu Messerattacken erst in der Kriminalitätsstatistik im nächsten Jahr veröffentlicht werden.

Überblick über die derzeitige Lage ist nicht einfach

Es gibt aber auch weitere Effekte, die einen genauen Überblick über die derzeitige Lage erschweren. So betont das Bundeskriminalamt, dass es in seiner Statistik immer nur das "Hellfeld" abbilden könne. Also nur das, was zur Anzeige gebracht wird. Andererseits habe die hohe mediale Präsenz solcher Straftaten auch Folgen für das Anzeigeverhalten, betont Martin Rettenberger: "Wenn bestimmte kriminalitätsbezogene Merkmale und Phänomene besonders stark im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit in der Bevölkerung, Anzeige zu erstatten."

Dies habe dann Folgen für die Kriminalitätsstatistik: Denn am Ende sei teilweise schwer zu unterscheiden, ob es sich um eine Zunahme von Taten handele oder ob einfach mehr und schneller angezeigt werde als früher.

Migrationshintergrund wird in der Statistik zu Messerangriffen nicht erfasst

Neben der Frage, ob sich die Anzahl solcher Angriffe erhöht hat, entbrannte im Zuge des Messerangriffs von Mannheim auch wieder die Diskussion um einen möglichen Zusammenhang von solchen Taten und dem Migrationshintergrund von Tätern. Das Bundeskriminalamt erfasse jedoch in Fällen von Messerangriffen gar nicht den Migrationshintergrund von Tatverdächtigen, und es erfasse auch nicht systematisch, ob ein deutscher Pass vorliege, wie der "Faktenfuchs" des Bayerischen Rundfunks recherchierte.

Ohnehin bedeute das Merkmal "nicht deutsch" in Statistiken nur, dass die Personen keine deutsche Staatsangehörigkeit hätten, betont Dirk Peglow, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter Hessen, gegenüber unserer Redaktion. Es hieße aber nicht, dass diese Menschen nicht in Deutschland aufgewachsen seien. "An so einer Stelle, wie auch an anderen, kommen sehr viele Unschärfen in die Statistiken hinein", sagt Peglow.

Dem möglichen Zusammenhang von solchen Taten und dem Migrationshintergrund von Tätern hat sich auch die wissenschaftliche Forschung gewidmet. Eine Forschergruppe um Elena Rausch von der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden fand in einer Untersuchung aus dem Jahr 2021 heraus, dass es keinen messbaren Zusammenhang zwischen Gewalttaten mit Messern und der Staatsangehörigkeit der Täter gäbe. Die Forschenden betonten aber auch, dass insgesamt noch sehr wenig Daten zu diesem Themengebiet vorlägen.

Bund Deutscher Kriminalbeamter: Nicht wegen Einzelfällen eine Migrationsdebatte führen

Dirk Peglow vom Bund der Kriminalbeamten aus Hessen warnt derweil im Gespräch mit unserer Redaktion davor, "aufgrund von Einzelfällen, die jeder für sich natürlich schrecklich sind, eine Migrationsdebatte zu führen". Gleichzeitig weist der Kriminalkommissar aber darauf hin, dass Menschen, die in Deutschland schwere Straftaten begangen hätten, abgeschoben werden müssten.

Vielmehr plädiert Peglow für eine differenzierte Betrachtung der Lage. Innerhalb der Gruppe der Geflüchteten sei demnach die Altersgruppe von 16 bis etwa 27 besonders stark vertreten. Zudem sei auch der Anteil der männlichen Geflüchteten sehr hoch. Gleichzeitig wisse man aus der kriminologischen Forschung, dass die Bereitschaft für gesetzeswidriges Verhalten unabhängig von der Herkunft "in dieser Altersgruppe und bei Männern erhöht" sei.

Man solle daher darüber nachdenken, regt Peglow an, das Mitführen von Messern im öffentlichen Raum grundsätzlich zu verbieten und die Ausnahmen von diesem Verbot gesetzlich zu regeln. Gleichzeitig müsse es neben der Strafverfolgung auch mehr Prävention geben. So etwa eine Verstärkung der Sozialarbeit, durch die dann Ansprachen fragiler Gruppen erfolgen könnte.

Messerattacken viel häufiger im nahen Umfeld als durch Unbekannte

Weit weniger als die Herkunft des Täters in Mannheim spielt in der aktuellen Debatten jedoch die Frage eine Rolle, wie solche Taten üblicherweise ablaufen. Gerade mit Blick auf den Angriff in Mannheim ist dies aufschlussreich, betont Martin Rettenberger. Denn Messerattacken, bei denen willkürlich Personen zu Opfern würden, die keine vorherige Beziehung zum Täter hätten, seien innerhalb der Messergewaltkriminalität "eine äußerst selten auftretende Fallkonstellation".

"Viel häufiger", so der Kriminologe, "werden Messer im Rahmen von Konflikten und Eskalationen von Auseinandersetzungen im sozialen Nah-Raum, also etwa im Bereich der häuslichen Gewalt, oder bei gewalttätig ausgetragenen Konflikten zwischen Jugendlichen, eingesetzt."

Quellen:

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