Alle vier Tage stirbt in Italien eine Frau durch Männerhand. Der Mord an einer Studentin erschüttert das Land in besonderem Ausmaß. Tausende protestieren gegen die patriarchalen Strukturen des Landes.

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Die Piazza Santissima Annunziata in Florenz bebt vor Lärm. Tausende junge Menschen haben sich versammelt, sie schlagen auf Topfdeckel, pfeifen, klatschen. Ähnliche Szenen spielen sich in diesen Tagen in Bologna, Turin, Rom oder Mailand ab. Studenten besetzen Fakultäten, anstelle einer Schweigeminute, die die Regierung nach dem brutalen Tod einer Studentin angeordnet hatte, machen sie Lärm. Ihr Schlachtruf sind die Worte der Dichterin Cristina Càseres: "Wenn ich morgen nicht zurückkehre, Schwester, reiß alles nieder. Wenn ich morgen dran bin, will ich die letzte sein."

Die Menschen wollen reden, und nicht schweigen: Über Italien und sein Problem mit Femizid, dem geschlechtsspezifischen Mord an Frauen. Alle vier Tage wird in Italien eine Frau ermordet, weil sie eine Frau ist, 87 waren es allein in diesem Jahr. Das Schicksal der 22-jährigen Giulia sorgt für blankes Entsetzen. Vor zwei Wochen traf sich die Studentin aus Venetien mit ihrem Ex-Freund. Der schlug sie nieder, stach hunderte Male auf sie ein. Dann hievte er sie in den Kofferraum und floh: Über Norditalien nach Österreich, quer durch Deutschland. Unterwegs warf er Giulias Leiche in eine norditalienische Schlucht. Deutsche Beamte fanden ihn an einer Autobahn bei Leipzig, wo ihm das Benzin ausgegangen war.

Kein typisch italienisches Problem

Am Samstag (25. November) wurde Filippo T. nach Italien ausgeliefert. Ausgerechnet am internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Die Demonstrationen in Rom und Messina sind diesmal darum besonders laut: Tausende sind angereist, um der Opfer zu gedenken und stärkeren Schutz durch die Regierung zu fordern. Am Circo Massimo haben sich laut der Organisation "Nicht eine mehr" 500.000 Menschen versammelt, unter ihnen auch bekannte italienische Prominente und Musiker und die Chefin der Sozialdemokraten Elly Schlein. Die Demonstranten tragen rote Halsbänder, halten Plakate gegen das Patriarchat, sie rasseln mit Schlüsselbunden. Die Wut steht ihnen ins Gesicht geschrieben.

Die Geschichte trifft die Italiener mitten ins Herz, denn sie macht deutlich: Gewalt gegen Frauen ist kein Randproblem. Opfer und Täter kommen aus gutbürgerlichem Milieu, lernten sich an der Universität kennen. Zweimal hatte sich Giulia von ihrem Ex-Freund getrennt, zuletzt im Sommer. Doch Filippo T. setzte sie unter Druck, drohte ihr an, sich etwas anzutun. Vorboten von Gewalt, die typisch sind: Frauen sterben, weil sie sich gegen Obsession, Gewalt und Kontrollwahn wehren. Trotzdem ist Femizid in Italien immer noch kein Tatbestand – was nicht verwundert, wenn man bedenkt, dass das italienische Strafrecht noch bis in die Achtziger den "Mord aus Ehre" kannte: Männer bekamen eine wesentlich geringere Haftstrafe, wenn sie ihre Frau ermordeten, weil sie ihre Ehre verletzt hatte.

Mehr Frauenmorde in Deutschland

Dabei sind Femizide kein typisch italienisches Problem. Daten der deutschen Kriminalstatistik belegen, dass in Deutschland sogar noch mehr Frauen bei einem Femizid sterben, im Schnitt an jedem dritten Tag. Im europaweiten Vergleich liegt Deutschland im oberen Drittel – nur in Litauen, Lettland, Österreich, Slowenien und Kroatien sind die Zahlen höher. Allerdings sticht in Italien eines heraus: In fast drei Viertel der Fälle mordet der Partner oder Ex.

Auch deswegen hat Giulias Mord eine ungewöhnlich hitzige Debatte losgetreten. Seit Tagen beherrscht das Thema die Medien, landesweit diskutieren Politiker und Journalisten über Frauenrechte. Die Schwester des Opfers legt dabei den Finger in die Wunde. Jeder Femizid sei eine Tat "aus Macht", sagt Elena Cecchettin vor Journalisten, der Staat sei verantwortlich, weil er Frauen zu wenig schütze. Der Mörder ihrer Schwester sei "kein Monster", sondern Kind einer "Kultur der Vergewaltigung", sagt sie, reingeboren in Verhaltensmuster, die die Gesellschaft toleriere.

Männer in die Verantwortung nehmen

Die italienische Feministin Emma Bonini nimmt die Männer in die Pflicht. "Sie sollten in der Debatte Protagonisten sein und die Verantwortung auf sich nehmen", sagt sie im Gespräch mit "Il fatto quotidiano". Gewalt gegen Frauen werde in Italien öffentlich verharmlost, indem man versuche, die Tat über psychische Probleme des Täters zu erklären und die Opfer verantwortlich mache. Im Sommer hatte der Ex-Lebenspartner von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni für Aufsehen gesorgt, als er jungen Frauen riet, sich nicht zu betrinken, wollten sie nicht "auf einen Wolf" treffen.

Auch Meloni äußerte sich und verurteilte Femizide im Kurznachrichtendienst X, ehemals Twitter, als "Spur der Gewalt, die sich seit Jahren fortsetzt". "Jeder einzelne Fall, in dem eine Frau umgebracht wird, weil sie sich 'schuldig' macht, indem sie frei sein will, ist eine Verirrung, die nicht toleriert werden kann", schrieb sie. Die Starjounalistin Lili Gruber hielt der Postfaschistin daraufhin vor, Ausdruck einer "patriarchalen Kultur" sein. Meloni versuchte das mit einem Familienfoto auf Facebook zu widerlegen, das mit ihrer Mutter, Tochter und Großmutter zeigte.

Schärfere Gesetze zum Schutz von Frauen

Während die rechtsnationale Regierung die Schuld von sich weist, sucht die Opposition nach Ansätzen für eine Lösung. Elly Schlein, Chefin der Sozialdemokraten, fordert ein neues Schulfach, das Kindern beibringen soll, sich emotional zu kontrollieren. Schüler sollen lernen, Frauen gegenüber respektvoll zu sein und Konflikte nicht gewaltvoll zu lösen. Doch bislang wird an italienischen Schulen nicht einmal verpflichtend Sexualkunde unterrichtet. Mehrere Initiativen dazu liefen ins Leere, für die rechte Regierung ist das Thema eine Privatsache der Eltern.

Am Mittwoch bewilligte der Senat eine Gesetzesvorlage, die Frauen besser schützen sollen. Schon bei ersten Anzeichen von Gewalt sollen sie sich Hilfe suchen können. Die Fristen, in denen die Behörden handeln müssen, werden verkürzt. Nur wenige Tage nach dem Mord an Giulia zeigt ein weiterer Fall, dass das längst überfällig war: Am Dienstag schüttete ein 24-Jähriger seiner Ex-Freundin Salzsäure ins Gesicht. Der Mann war bereits im August festgenommen worden, weil er die junge Frau angegriffen und bedroht hatte. Der Richter setzte ihn zwischenzeitlich auf freien Fuß – er hatte sich entschuldigt.

Verwendete Quellen:

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