Auf dem Parteitag im Dezember vergangenen Jahres beschwor die neue SPD-Spitze eine neue Ära. Mittlerweile sind Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans 100 Tage im Amt. Haben sie Wort gehalten? Zwei Politikwissenschaftler analysieren für unsere Redaktion die bisherigen Vorstöße, Erfolge und Zukunftsaussichten.

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100 Tage ist es her, dass Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken auf dem Bundesparteitag in Berlin zum neuen Führungsduo der SPD gemacht wurden. Das damalige Wahlergebnis war solide: 75,9 Prozent für Esken, 89,2 Prozent für Walter-Borjans.

Bei ihrer Rede sagte Esken: "Hört ihr die Signale? Die neue Zeit, sie ruft. Wir gehen nach vorne, wir kehren nicht mehr um, wir blicken auch nicht mehr zurück. Wir gehen nach vorne in die neue Zeit.“ Ist die beschworene neue Ära tatsächlich angebrochen? Wie sieht die erste Bilanz des Führungsduos aus?

Gemischtes Zeugnis

Wolfgang Schroeder ist Politikwissenschaftler an der Universtität Kassel. Er meint: "Eine neue Ära ist noch nicht erkennbar.“ Die Erwartungen, dass Esken und Walter-Borjans die Reputation und Durchschlagskraft der Sozialdemokratie würden verbessern können, seien jedoch ohnehin gering gewesen. "Sie haben sich in die bestehenden Verhältnisse eingefädelt, haben mit zur Stabilisierung beigetragen, sind bislang wenig aufgefallen und haben keine Turbulenzen verursacht“, urteilt Schroeder.

Auch die Bilanz von Thomas König, Politikwissenschaftler an der Universität Mannheim, fällt gemischt aus: "Die Zufriedenheit unter den Parteimitgliedern ist zwar recht hoch, aber der Wählererfolg ist auch Aufgabenfeld der Parteiführung – dort ist sicherlich noch viel Luft nach oben.“ Bei einer SPD, die in Umfragen 15 Prozent der Stimmen bekomme, sei sicherlich keine neue Ära angebrochen.

Schärfung eines linkeren Profils?

Bei ihren Bewerbungsreden waren die 58-Jährige und der 67-Jährige mit Forderungen nach einer linkeren Politik angetreten. Dazu gehörte vor allem die Forderung nach dem Austritt aus der Großen Koalition. Dass das linke Profil der SPD geschärft wurde, sieht Schroeder jedoch nicht.

"Das linke Profil lässt sich nicht dadurch schärfen, dass man ein Zückerchen in den Kaffee hineingibt, aber der Kaffee von außen genauso aussieht wie vorher. Für ein linkeres Profil braucht man eine Strategie, die einen längeren Atem erfordert“, so der Wissenschaftler.

Auch Thomas König hat Vorbehalte. "Mit der Parteiführung unter Esken und Walter-Borjans vollzieht die SPD zwar eine Positionierung im linken Lager. Aber in diesem Lager befinden sich mehrere Parteien“, so König. Die wichtige Frage laute nun, ob sich Esken und Walter-Borjans mit ihren Vorstößen von der Linkspartei oder den Grünen absetzen könnten.

Aussichtslose Forderungen

Die Vorstöße sind immerhin zahlreich. Mit Forderungen nach einer Vermögenssteuer, einer Steigerung des Spitzensteuersatzes, höheren Rentenbeiträgen für Gutverdienern oder einer höheren Besteuerung bei steigenden Bodenwerten haben die Baden-Württembergerin und der Nordrhein-Westfale von sich reden gemacht.

Schroeder unterstreicht aber: "Diese Punkte spiegeln die Beschlusslage der SPD wider, lassen sich aber in der Groko so nicht umsetzen. Weshalb die beiden, die formal außerhalb der Koalition stehen, sich als Lautsprecher für die originären Positionen der SPD begreifen.“ Auch wenn diese Strategie die Bevölkerung nicht sonderlich zu interessieren scheine, sei das Werben für inhaltliche Alternativen, die über den Tag hinaus weisen, durchaus sinnvoll.

König übt an anderer Stelle Kritik: "Die Agenda der Parteispitze zeigt, dass sie primär den Wünschen ihrer Parteimitglieder nachgehen. Das sind aber nicht so sehr Themen, die die Mitte der Bevölkerung betreffen“. Eine gute Parteiführung müsse jedoch beides im Auge haben.

Auf Erfolge angewiesen

Außerdem äußerten sich Esken und Walter-Borjans wenig zu aktuellen Themen wie etwa Corona oder der Flüchtlingsfrage. "Es wird nicht deutlich, was die Partei hier konkret für Vorstellungen hat“, meint König. Schroeder aber hat beobachtet: "Das, was die SPD programmatisch will, haben die beiden schon versucht, öffentlich lauter zu artikulieren. Es stößt aber gegenwärtig nicht wirklich auf Resonanz.“

Das könnte auch daran liegen, dass andere Themen auf der bundespolitischen, europäischen und internationalen Bühne die Neuaufstellung der SPD überschatten. Sind Esken und Walter-Borjans also dringend auf Erfolge angewiesen? "Ja. Inhaltlich kann die Parteispitze bisher keine Erfolge in der GroKo vorweisen“, meint König. Mit den bisherigen Forderungen signalisiere das Duo nur, dass es sich nach der nächsten Wahl ein Linksbündnis erhofft.

Duo fährt Doppelstrategie

Gleichzeitig sind die Forderungen nach einem Ausstieg aus der Koalition verstummt. "Sie mussten feststellen, dass es dafür gegenwärtig keinen Handlungsspielraum gibt und haben die Forderung fallen gelassen“, erklärt Schroeder. Die Führungsspitze fahre eine Doppelstrategie: Auf der einen Seite gut regieren und anderseits deutlich machen, was eine sozialdemokratische Position wäre.

Schroeder sieht weitere Erfolge: "Esken und Walter-Borjans versuchen nicht ihre Positionen gegen die anderen Akteure in der SPD durchzusetzen, insofern haben sie auch einen Anteil daran, dass wieder etwas stabilere Verhältnisse eingetreten sind und die Partei weniger zerrissen erscheint.“ Die Spitze leiste damit einen Beitrag zur Integration im Übergang. "Eine heroische oder charismatische Persönlichkeit an der Spitze würde unter den Bedingungen, die aktuell existieren, vielleicht auch verbrannt werden“, argumentiert Schroeder.

Auch König ist der Meinung: "Die SPD konnte sich hinter dem Führungs-Duo versammeln. Selbst Malu Dreyer hat gesagt, es laufe nun gut, weil die parteiinternen Querelen außen vor seien.“

"Good cop“ und "bad cop“

Ein Grund dafür könnte das unterschiedliche Temperament der SPD-Politiker sein. Während Esken recht forsch auftritt und ihren Kollegen oft nicht zu Wort kommen lässt, wirkt der ausgleichender und vermittelnder. "Das ergänzt sich gut“, glaubt König. Überspitzt könne man von "bad cop“ und "good cop“ sprechen. "Die Strategie ist erfolgreicher, als wenn beide poltern würden und sich ständig ins Gehege kämen“, so König.

Ob sich langfristig Erfolg bei den Wählern einstellt, ist allerdings noch einmal eine andere Frage. "Der Anteil am Wahlerfolg in Hamburg ist nicht vorhanden. Beide waren bei den Wahlveranstaltungen nicht anwesend, weil die Hamburger SPD den neuen Links-Kurs nicht symbolisch präsent haben wollte“, analysiert König. In Thüringen habe die neue SPD-Führung ebenfalls nicht dafür gesorgt, dass die Wähler bei der SPD ihr Kreuzchen machten.

Gefahr durch Opportunismus

"Gerade sieht es so aus, dass es weniger die inhaltlichen Positionen sind, die beim Wähler wieder etwas mehr Sympathie für die SPD aufbauen, sondern die Schwäche der CDU“, vermutet Schroeder. Das müsse aber nicht so bleiben. Klarere inhaltliche Profilierung, insbesondere gegenüber den Grünen, sei notwendig.

König sieht den künftigen Erfolg von Esken und Walter-Borjans durch Opportunismus gefährdet. "Nach seiner Wahl in Thüringen hat Bodo Ramelow sogar einen AfD-Kandidaten ins Amt des Landtagspräsidiums gewählt, ohne dass eine entsprechende Verurteilung erfolgte. Wenn sich das Duo gegenüber dem linken Lager selbst bei solchen Anlässen wohlfeil verhält, beschädigt das langfristig ihre Glaubwürdigkeit.“

Über die Experten:
Wolfgang Schroeder studierte Politikwissenschaften in Marburg, Wien, Tübingen und Frankfurt. Aktuell lehrt er an der Universität Kassel, sein Forschungsschwerpunkt liegt auf dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland. Schroeder ist SPD-Mitglied.
Thomas König studierte Politikwissenschaften und Romanistik in Mannheim und Heidelberg. An der Universität Mannheim arbeitet er aktuell beispielsweise zu Fragen der europäischen Integration, Parteiendemokratie und der Machtverteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative.
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