Wissenschafter haben in Deutschland die "Akademie im Exil" gegründet - eine Institution, die viel über die Lage in der Türkei aussagt. Denn sie soll Zufluchtsort sein für kritische Wissenschaftler, denen in der Türkei eine Anklage droht. Mitinitiator Georges Khalil über wachsende Repressionen und die Ängste seiner türkischen Kollegen.

Ein Interview

Mehr als 1.000 Wissenschaftler haben Anfang 2016 einen Friedensappell an die türkische Regierung unterzeichnet – sie riefen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zu einem Ende der Gewalt in den Kurdengebieten auf.

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Nun will die türkische Staatsanwaltschaft sie offenbar wegen Terrorpropaganda anklagen.

Kurz bevor der Schritt bekannt wurde, haben Wissenschaftler in Deutschland die "Akademie im Exil" gegründet. Verfolgte Akademiker sollen in Essen und Berlin die Möglichkeit bekommen, ihre wissenschaftliche Arbeit fortzusetzen.

Georges Khalil vom Forum Transregionale Studien in Berlin hat das Projekt gemeinsam mit der Duisbuger Literatur-Professorin Kader Konuk und dem Essener Kulturwissenschaftler Volker Heins angestoßen.

Im Interview mit unserer Redaktion erklärt Khalil, was die Akademie leisten soll, welche Sorgen die betroffenen Wissenschaftler umtreiben und welches Kalkül er hinter den Anklagen sieht.

Herr Khalil, die Türkei möchte offenbar Wissenschaftler, die den Friedensappell unterzeichnet haben, vor Gericht anklagen. Hat Sie das überrascht?

Georges Khalil: Unsere Wissenschaftler, die aus der Türkei kommen, haben damit gerechnet, dass dieser Schritt kommen wird. Insofern ist er eigentlich keine Überraschung.

Sie gehören zu den Gründern der "Akademie im Exil". Wissenschaftler, die in der Türkei nicht mehr frei arbeiten können, sollen dort die Möglichkeit bekommen, ihre Arbeit im Ausland weiterzuführen. Warum ist diese Akademie nötig?

Khalil: Sie ist erstens Ausdruck der Solidarität mit Kollegen. Das Forum Transregionale Studien hat in den vergangenen 15 Jahren mehr als 50 Wissenschaftler für ein Jahr nach Berlin eingeladen, um die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Türkei auf eine andere Qualitätsstufe zu bringen.

Viele der ehemaligen und aktuellen Teilnehmer – die meisten davon sind übrigens Frauen – gehören zu den Unterzeichnern der Petition.

Außerdem glauben wir, dass wir generell das Potenzial der Akademiker, die aus der Türkei nach Deutschland kommen, besser nutzen sollten, um unser Wissenschaftssystem zu pluralisieren.

Zudem sind Wissenschaftsfreiheit und bürgerliche Freiheiten in vielen Ländern bedroht, nicht nur in der Türkei. Wir haben auch viele Gastwissenschaftler aus Ägypten, Syrien und anderen Staaten, in denen es eine bedenkliche Entwicklung gibt.

Wie weit ist die Gründung fortgeschritten?

Khalil: Die Ausschreibung für die zehn Stipendien, die wir vergeben wollen, läuft jetzt. Wir haben ein Kollegium gebildet, das je zur Hälfte aus geflüchteten Wissenschaftlern sowie aus Forschern mit Türkei-Bezug an deutschen Hochschulen besteht. Wir hoffen, dass im Januar die ersten Fellows zu uns stoßen.

Die Akademie ist in einer Aufbau- und Anlaufphase. Wir möchten mit den Teilnehmern etwas Gemeinsames entwickeln, das den Exil-Wissenschaftlern neue Perspektiven für ihre Arbeit gibt und gleichzeitig die Angebote der türkeibezogenen Forschung in Deutschland erweitert.

Wie würden Sie die Stimmung unter den betroffenen Wissenschaftlern beschreiben?

Khalil: Ich denke, dass alle von großen Sorgen geplagt werden. Diejenigen, die sich hier in Deutschland befinden, treibt vor allem die Sorge um ihre Kollegen um, die noch in der Türkei sind. Die dürfen zum Teil nicht ausreisen, und ihre wirtschaftliche Existenz steht in Frage.

Verunsichert sind ganz viele: Die Wissenschaftler, die in der Türkei entlassen wurden und keine neuen Stellen bekommen. Aber auch diejenigen, die zum Beispiel über ein Stipendium hierhergekommen sind und nicht wissen, was sie im nächsten Jahr machen sollen, wenn ihr Stipendium ausläuft.

Es gehört zur Natur autoritärer Regime, dass sie ihre Bürger in einen Zustand der Unsicherheit versetzen. Dafür spricht die Tatsache, dass die Wissenschaftler alle als Einzelpersonen an unterschiedlichen türkischen Gerichten angeklagt werden.

Das soll wohl zu einer Verteilung und Schwächung der Solidarität führen.

Ihre Mitstreiterin Kader Konuk war seit 2014 nicht mehr in der Türkei, weil sie angefeindet wird und mit Repressionen rechnen muss. Bekommen auch Sie als Mitbegründer der Akademie Druck von türkischer Seite zu spüren?

Khalil: Ich selbst habe biografisch nichts mit der Türkei zu tun und habe auch die Petition nicht unterschrieben.

Frau Konuk ist eine im besten Sinne kritische Wissenschaftlerin, die sich mit ganz vielen verschiedenen Fragen beschäftigt hat – zum Beispiel mit dem Stellenwert der Werke türkischstämmiger Autoren in der deutschsprachigen Literatur, aber auch mit der Frage des Völkermords an den Armeniern.

Sie war immer wieder Anfeindungen von nationalistischen türkischen Kreisen ausgesetzt – wie viele andere Wissenschaftler.

Hat der Putschversuch vom Juli 2016 die Situation noch einmal verschärft?

Khalil: Die ersten Entlassungen von Wissenschaftlern hatten ja schon vor dem Putschversuch stattgefunden. Ich denke aber, dass er ein Katalysator war, der die vorhandenen autoritären Tendenzen verstärkt hat.

Er hat Teilen der Regierung den Vorwand geliefert, um so zu reagieren, wie sie reagieren.

Zur Person: Georges Khalil hat Geschichte, Politik- und Islamwissenschaft in Hamburg und Kairo studiert. Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Koordinator des Forums Transregionale Studien, das sich für eine Internationalisierung der Geistes- und Sozialwissenschaften in Deutschland einsetzt.



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