In Katar leben rund 320.000 Katarer - und über zwei Millionen Arbeitsmigranten. Wie Amnesty International jetzt dokumentiert, schuften die meisten von ihnen nach wie vor unter unwürdigen Bedingungen, allen Versprechen des Emirats zum Trotz. Wir haben mit Katar-Expertin Regina Spöttl über skrupellose Arbeitgeber, Schein-Reformen und Menschen, die sich trotz harter Arbeit aus dem Müll ernähren müssen, gesprochen.

Ein Interview

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Schöne neue Welt: In Katar werden für die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 acht futuristisch anmutende Stadien gebaut. Hotels mit glitzernden Fassaden schießen wie Pilze aus dem Boden. Straßen werden gebaut, ein neuer Flughafen und eine U-Bahn entstehen. Investitionssumme: Über 200 Milliarden Dollar.

Möglich machen das rund zwei Millionen Arbeitsmigranten, die überwiegend aus Nepal, Pakistan, Indien oder afrikanischen Staaten stammen. An deren katastrophalen Arbeitsbedingungen hat sich seit der WM-Vergabe 2011 quasi nichts geändert, wie der neue Bericht "All Work, no Pay" von Amnesty International zeigt.

Mitarbeiter der Organisation haben dafür zwischen Juli und Dezember 2018 die Situation in drei Firmen der Bau- und Reinigungsbranche mit insgesamt 2.000 Beschäftigten dokumentiert. Sie haben Unterkünfte von Arbeitern besucht, mit Behördenvertretern gesprochen, Gerichtsverfahren begleitet sowie Gesetze und Regularien analysiert. Regina Spöttl, Katar-Expertin bei Amnesty International in Deutschland, über die schockierenden Erkenntnisse.

Frau Spöttl, welche Schikanen erleben die Arbeitsmigranten in Katar?

Regina Spöttl: Bei allen drei Unternehmen herrschte die gleiche Misere: Es gibt keinen Arbeitsschutz. Die Menschen hausen in Unterkünften, die jeder Beschreibung spotten. Und vor allem: Die Arbeiter wurden wieder und wieder mit großer Verzögerung bezahlt oder bekamen schlicht gar keinen Lohn. Irgendwann sind die Menschen am Limit.

Nicht nur, dass sie selbst nichts zum Leben haben: Viele müssen Kredite bedienen, die sie für Vermittlungsgebühren und den Flug nach Katar aufgenommen haben. Dazu kommt die Belastung, kein Geld nach Hause schicken zu können, obwohl sie gekommen sind, um die Familie unterstützen und ihre Kinder zur Schule schicken zu können.

Wovon leben die Menschen, wenn sie monatelang keinen Lohn bekommen?

Man fragt sich wirklich, wie das geht. Ich denke immer wieder an einen Mann aus Nigeria, der erzählt hat, dass er ein Jahr lang Lebensmittelreste aus Mülltonnen gegessen hat. Die Menschen machen irgendwie weiter, manchmal auch, weil sie vom Arbeitgeber bedroht oder an der Ausreise gehindert werden.

Das sogenannte Kafala-System, das für eine enorme Abhängigkeit der ausländischen Arbeitnehmer von ihren Arbeitgebern sorgte, weil ihre Aufenthaltsgenehmigung an deren Bürgschaft gekoppelt war, wurde 2016 reformiert. Grundlegend verbessert hat sich die Situation der Arbeitsmigranten dadurch aber offenbar nicht.

Unser Bericht von 2017 war mit dem Titel 'Neues System - Alter Name' überschrieben. Das bringt es auf den Punkt. Ein Beispiel: Der Staat hat den Arbeitgebern zwar inzwischen untersagt, die Pässe ihrer Mitarbeiter einzubehalten. Es gibt aber ein perfides Schlupfloch: Der Arbeitgeber darf den Pass einbehalten, wenn der Arbeitnehmer schriftlich zustimmt. De facto werden den Migranten, die ja häufig kein Arabisch sprechen, Dokumente zur Unterschrift vorgelegt, die sie nicht verstehen. Und schon ist der Pass weg.

Ein anderes Beispiel sind die Schiedsgerichte, die eingerichtet wurden, damit sich Arbeitnehmer auf dem Rechtsweg leichter wehren können, wenn sie zum Beispiel keinen Lohn bekommen. Eigentlich eine gute Sache, doch diese Gerichte sind hoffnungslos unterbesetzt. Arbeitnehmer, die klagen wollen, warten monatelang auf einen Termin. Viele geben irgendwann auf, weil ihnen das Geld ausgeht. Sie gehen dann nach Jahren harter Arbeit mit leeren Händen in die Heimat zurück.

Wie kommen die Amnesty-Mitarbeiter an ihre Informationen - können die so einfach auf die Baustellen spazieren?

Wie schwer es unsere Mitarbeiter haben, ist von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich. Manche versuchen, Kontrollen zu verhindern. Unterm Strich sind Kontakte zu den Arbeitern aber möglich. Viel schwieriger ist es bei den Hausangestellten. In einem arabischen Land können Sie nicht so einfach einen Inspektor in einen Privathaushalt schicken.

Der Bauboom in Katar hängt maßgeblich mit der Fußball-WM 2022 zusammen. Wird die FIFA ihrer Verantwortung gerecht?

Die Menschen, die unmittelbar an den WM-Stadien arbeiten, haben es etwas besser. Sie leben in Camps, in denen es zumindest Toiletten und Klimaanlagen gibt. Das ist, was Funktionären und Journalisten präsentiert wird - aber leider nur ein kleiner Teil der Realität.

30.000 Menschen arbeiten auf den WM-Baustellen, viele der rund zwei Millionen Arbeitsmigranten an der Infrastruktur, an Straßen, Hotels, Parks, der U-Bahn. Die Fifa darf sich nicht länger nur für die Arbeiter auf den WM-Baustellen einsetzen. Die Funktionäre kennen die Verantwortlichen, kennen das Königshaus. Sie müssen ihren Einfluss zugunsten aller Arbeitnehmer geltend machen.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Regina Spöttl
  • Amnesty-Bericht "All Work, no Pay - The Struggle of Qatar's Migrant Workers for Justice"
  • Auswärtiges Amt: Überblick zu Katar
  • dpa
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