Im ARD-Interview mit Journalist Hubert Seipel hat sich der russische Präsident Wladimir Putin über den Konflikt in der Ukraine geäußert. Wie stichhaltig sind seine Aussagen? Wir machen den Faktencheck.

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Bedroht die Nato Russland?

Mehrfach hat Wladimir Putin im Interview darauf verwiesen, dass die russischen Sicherheitsinteressen vom Westen nicht beachtet würden. In den vergangenen zehn Jahren erweiterte sich die Nato um die Länder Bulgarien, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Albanien, Kroatien und die baltischen Staaten. Damit rückte das Gebiet des westlichen Militärbündnisses unmittelbar an die russischen Grenzen heran. "Das Wichtige bei der Sache ist nicht, dass die Nato Russland bedroht, sondern dass Russland sich von der Nato bedroht fühlt", betont Ulrich Kühn, Nato-Experte am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg. "Bisher hat die Nato noch keine überzeugende Antwort darauf gefunden, den Russen diese Wahrnehmung, die eine Fehlwahrnehmung ist, zu nehmen."

Putin kritisierte auch militärische Einheiten und Übungen in der Nähe von Russland. "Amerikanische Stützpunkte sind in der ganzen Welt verstreut, unter anderem auch nahe unserer Grenzen. Und deren Anzahl wird größer", sagte Putin. Für Sicherheitsexperte Kühn ist das jedoch zu einseitig: "Was er vergisst zu erwähnen, ist, dass Russland seit mehreren Jahren Manöver an der Grenze zu Nato-Ländern, beispielsweise Litauen und Polen, durchführt." Bei einem sehr großen Manöver sei auch der Angriff mit taktischen Nuklearwaffen gegen Polen simuliert worden. "Das sind Szenarien, die auf Nato-Seite nicht vorkommen", meint Kühn. Zudem handle es sich bei den jüngsten Militärübungen der Nato-Bündnispartner um Reaktionen auf den Konflikt in der Ukraine und den Manövern auf russischer Seite.

Wie groß ist die Gefahr von Faschismus in der Ukraine?

Im Interview mit Seipel sprach Putin mehrmals davon, dass von der ukrainischen Regierung große Gefahren für die russische Bevölkerung und Angehörige anderer Nationalitäten ausgehe. Nach Kühn ist es eine verbreitete Ansicht in Russland, dass das Regime in Kiew faschistisch ist. Zwar haben auf dem Maidan auch rechtsgerichtete Kräfte mitdemonstriert. "Ich glaube aber, dass das Minderheiten sind. Das hat man auch bei den Wahlen gesehen", sagt der Sicherheitsexperte. Bei den ukrainischen Parlamentswahlen am 26. Oktober erreichte die rechtsextreme "Swoboda"-Partei nur 4,7 Prozent und der "Rechte Sektor" 1,8 Prozent der Stimmen. Die gemäßigten demokratischen Parteien erzielten die klare Mehrheit.


Für die "ethnischen Säuberungen", die Putin befürchtet, sieht Kühn keine Anzeichen - "zum Glück weder auf der einen noch auf der anderen Seite." Derartige Bezichtigungen würden bei der Vorbeugung von solchen Katastrophen aber nicht helfen. "Putin sollte sich zurückhalten und nicht verbal zündeln", fordert Kühn.

Hat der Kreml auf der Krim gegen das Völkerrecht verstoßen?

"Ich bin fest davon überzeugt, dass Russland gegen das Völkerrecht in keiner Weise verstoßen hat", erklärte Putin in der ARD. Das Referendum auf der Krim sei das Selbstbestimmungsrecht des Volkes gewesen. Dabei bezieht er sich auf den "Präzedenzfall Kosovo".

Kühn hat dagegen zwei Einwände. Zum einen seien Völkerrechtler sich nicht einig, ob der Fall im Kosovo juristisch einwandfrei zu bewerten sei. Zum anderen wurde das Votum auf der Halbinsel am 16. März im Schnellverfahren durchgeführt. "Es gab keine freie Berichterstattung mehr und für die russlandkritischen Bewohner der Krim keine Möglichkeit, überhaupt so etwas wie einen Wahlkampf zu führen." Der Bevölkerung blieb nur wenige Tage Zeit, sich eine Meinung in der Frage zu bilden. "Deswegen kann man nicht von einer freien Form des Referendums sprechen, auch wenn die Menschen nicht mit vorgehaltener Waffe an die Wahlurnen gezwungen wurden", fasst es der Experte zusammen.


Dennoch sieht Kühn in Putins Argumentation des russischen Präsidenten einen wichtigen Anhaltspunkt: Der russische Präsident habe sich immer wieder auf das internationale Recht berufen. "Das zeigt, dass er seine Politik nicht so versteht, dass Russland jetzt einen Freifahrtsschein hat, um alles machen zu können", meint Kühn.

Wie abhängig ist die ukrainische Wirtschaft von Russland?

Die Sanktionen gegen Russland würden laut Putin nicht nur sein Land treffen, sondern auch dem Westen selbst schaden - und auch der Ukraine. "Was wollen sie erreichen? Den Zusammenbruch unserer Banken? Dann wird auch die Ukraine zusammenbrechen", führt der Kreml-Chef aus.

Tatsächlich ist die Ukraine immer noch sehr stark von Russland abhängig - vermutlich stärker als von den Staaten der Europäischen Union, betont Kühn. Kiew braucht nicht nur die russischen Gaslieferungen, auch der Industriesektor sei eng mit Russland verflochten. "In den vergangenen Jahren hat Moskau seinem Nachbarstaat immer wieder Kredite zu traumhaften Zinssätzen bewilligt", sagt der Forscher. "Das diente aber dem Zweck, die zu Russland positiv gestimmte Regierung von Viktor Janukowitsch künstlich am Leben zu erhalten."

Die Drohkulisse, die Putin aufbaut, sei aber keine Basis für die weitere Politik: "Das verhindert, dass die Ukraine aus diesem Sumpf aus Korruption und Misswirtschaft selber herauskommt."

Ulrich Kühn ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Er studierte Geschichte an der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Die NATO-Russland-Kooperation ist eine seiner Forschungsschwerpunkte.
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