Erst der Anschlag auf AfD-Politiker Frank Magnitz, dann der Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke, hinzu kommen Drohungen gegen unter anderem den Thüringer CDU-Politiker Mike Mohring, den Bürgermeister von Altena Andreas Hollstein und aktuell gegen die Grünen-Politiker Cem Özdemir und Claudia Roth: Politiker werden immer häufiger zur Zielscheibe. Politikpsychologe Thomas Kliche erklärt im Interview die Hintergründe.

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Immer wieder lesen wir von Angriffen auf Politiker; Magnitz, Lübcke und Mohring stehen stellvertretend für viele Taten. Das Bundeskriminalamt hat laut ARD-Faktenfinder im vergangenen Jahr 1256 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger gezählt, darunter 43 Gewaltdelikte. Ist der Job des Politikers heute gefährlicher als noch vor einigen Jahren?

Thomas Kliche: Ja, und diese Angriffe werden zunehmen. Der Populismus hat mit seiner Hetze gegen Politiker ein Klima erzeugt, in dem instabile Menschen sich für heldenhafte Vertreter der Mehrheit halten können, wenn sie Politiker angreifen. Die Angriffe richten sich immer mehr auf die greifbaren Leute, nicht auf die wirklich Mächtigen.

Immer häufiger werden Kommunalpolitiker angegriffen. Die leben um die Ecke, die haben keinen Nimbus und keine Leibwächter, da kann man leicht mal vorbeifahren und draufhauen. Und da ist die Wirkung am deutlichsten: Immer wieder sagen Gemeinderäte oder Bürgermeisterinnen, gerade in Ostdeutschland, dass sie von der Giftigkeit und den Pöbeleien die Nase voll haben und aufhören – also gerade da, wo man sie am schwersten gewinnen kann.

Warum stellen Politiker überhaupt ein relevantes Feindbild dar?

Die Menschen spüren: Tiefe Veränderungen stehen an, unsere ganze Art zu leben muss verändert werden. Die geht ja auf Kosten der Natur, auf Kosten anderer Völker und auf Kosten der sozial Schwächeren. Also Schluss mit Malle, SUV, Fleisch, Plastik, Illusionen.

Auf diese Verunsicherung und auf die Zumutungen von Vernunft und Bescheidenheit reagieren viele Menschen mit rabiater psychodynamischer Abwehr: Sie verkleinern oder verleugnen die Klimakatastrophe, sie untertreiben ihren Beitrag und unsere Gestaltungsspielräume, leugnen also Verantwortung, sie schieben die Lösung der technischen Entwicklung zu, oder irgendwelchen Entscheidungsträgern.

Politiker sind dann als Sündenbock außerordentlich praktisch für die Psychohygiene: Die da sind schuld, ich doch nicht, auch wenn ich denen womöglich immer Mehrheiten verschafft habe, etwa, indem ich nicht wählen gegangen bin.

Was erhoffen sich die Angreifer von ihren Taten?

Nicht alle Taten sind durchdacht und nicht alle Täter auffallend denkstark. Es gibt deshalb mehrere Motive in unterschiedlichen Mischungen: Täter wollen Andersdenkende einschüchtern, die Arbeitsfähigkeit demokratischer Gremien stören, weitere Hasstaten und ihresgleichen ermutigen, ihre unausgegorenen Aggressionen unter einem Vorwand rauslassen, die Fackel der angeblichen Volksstimmung entzünden, dem Gegner den öffentlichen Raum streitig machen oder einfach ihre Terrormacht erleben.

Sind Angriffe auf Politiker ein linkes oder rechtes Phänomen? Das BKA zählt 517 rechtsmotivierte Taten und 222 linksmotivierte.

Politische Gewalt ist immer schlimm, aber ein überwiegend rechtsextremes Erzeugnis. Wir haben uns seit 30 Jahren daran gewöhnt, dass jährlich Hunderte Menschen von Rechten angegriffen und krankenhausreif geprügelt worden sind, Einzelne auch umgebracht. Die Rechten haben also gelernt: Aha, das klappt ja.

Der rechtsextreme Terror hat ein solides Einzugsgebiet von – je nach Schätzung – 12.000 oder mehr Gewaltbereiten, die sich immer besser vernetzen, organisieren und aufrüsten. Das ist jahrelang unterschätzt worden, sagen inzwischen die Bundespolizeien.

Ich glaube aber, uns stehen infolge des Staatsversagens in der Klimakatastrophe und der Nachsicht, die allerlei Medien und Behörden gegenüber der AfD gezeigt haben, neue Wellen politischer Kämpfe bevor. Faktisch hat ja unsere Gesellschaft den Jüngeren den Generationenvertrag gekündigt: Die Rente ist läppisch, die Klimakatastrophe zerstört dauerhaft die Lebensmöglichkeiten. Wenn das deutlich wird, werden noch härtere Formen von Konfrontation und Forderung aufkommen.

Farbanschläge auf Parteibüros und Hetze in sozialen Netzwerken: Ist die Qualität der Drohungen und Angriffe eine andere geworden?

Die Auseinandersetzungen werden schrittweise rücksichtsloser und greifen schrittweise leichter aufs Alltagsleben über. Es gibt neue Studien aus den USA und auch Deutschland, dass Regionen mit Erfolgen des Populismus kurz darauf auch mehr Hassverhalten aufweisen, z.B. ethnisches Mobbing an Schulen. Es reicht ja, wenn ein paar spinnerte Außenseiter so eine Stimmung in Taten umsetzen, das spaltet und radikalisiert schon.

Der Populismus hat in den wenigen Jahren seit 2015 das gesellschaftliche Gefühlsklima stark verschoben: Platte Feindseligkeit ohne irgendeine sonstige Lösungsidee ist als politisches Programm normal geworden.

Eine Auswertung des ARD-faktenfinder von Zahlen aus verschiedenen Bundesländern zeigt, dass die AfD von den im Bundestag vertretenen Parteien offenkundig am stärksten von Attacken wie Sachbeschädigungen, Drohungen oder tätliche Angriffe betroffen ist. Woran liegt das?

Diese Daten stimmen vorn und hinten nicht. Die meisten Taten und Angreifer sind ja rechtsextrem, das belegen die Polizeiliche Kriminalstatistik und die Verfassungsschutzberichte. Viele Linke, Grüne und Sozialdemokraten melden Bedrohungen und Angriffe kaum mehr, weil sie keine Hoffnung auf Hilfe haben.

Die Polizeien sind mit den NSU-Ermittlungen, Nordkreuz und allerlei skandalösen Einzelfällen in den Geruch gekommen, selbst teilweise rechtsextreme Sympathien zu dulden, das war gar nicht gut für ihre Vertrauenswürdigkeit. Die AfD pflegt dagegen bei jeder Gelegenheit den Mythos der verfolgten Unschuld, obwohl sie selbst massiv rechtsextreme Bestrebungen umfasst.

Ist das Resultat von Angriffen ohnehin nicht eher kontraproduktiv zur Absicht der Angreifer, wenn die Angegriffenen sich dann in der Opferrolle präsentieren können?

Gewalt geht fast immer nach hinten los. Die Rücksichtslosigkeit schädigt das Ansehen der Sache, die man vertritt. Wer sich nicht friedlich verständigen will, zersetzt die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft, das Alltagsvertrauen, die Bereitschaft zu vernünftiger Verständigung und Ehrlichkeit, auch der Ehrlichkeit zu sich selbst, die Zuversicht in eine gemeinsame Gestaltung einer guten Welt.

Krieg verroht Menschen, und das erste Opfer des Krieges ist immer die Wahrheit. Insofern ist Terrorismus enorm wirkungsvoll, aber durch seine allgemeine Zerstörungskraft, nicht durch die Förderung seiner angeblichen Ziele.

Welche Rolle spielen Social Media bei der Verrohung des Diskurses?

Das Internet ist praktisch für jede Art von Gemeinheit. Man kann sich heimlich organisieren, rasch verabreden, anonym andere beschimpfen und bedrohen, fabrikmäßig Stimmung in Kommentarspalten machen und Gewalt propagandistisch wie einen spannenden Film verbreiten, wie jüngst in Halle.

Das alles motiviert natürlich Nachahmungstäter. Vor allem aber geben viele Menschen auf, sich mit Einrichtungen auseinanderzusetzen, die von der Gesellschaft den Auftrag erhalten haben, wahrheitsfähige Aussagen zu prüfen und zu vermitteln, den Interdiskurs zu gestalten – also namentlich Medien, Wissenschaft, Politik, Recht, Bildungswesen.

... das bedeutet?

Man kann schon mit ein paar Spinnern eine große Bewegung vorspiegeln und sich gegenseitig die abgedrehtesten Wahnvorstellungen bestätigen – die Welt ist eine Scheibe, die Himmelsstreifen manipulieren uns, die deutsche Bevölkerung wird von einer Weltverschwörung umgevolkt.

Gleichzeitig sinken die Konzentrationsfähigkeit der Menschen und die Zeit, mit der Themen gesellschaftlich diskutiert werden, selbst die wichtigsten. Unsere Gesellschaft bezahlt die irrsinnige Informationsflut mit einem Verlust an Orientierung und Urteilskraft. Nur so ist die Leugnung der Klimakatastrophe überhaupt verständlich. Wir werden einen schrecklichen Preis dafür bezahlen.

Prof. Dr. Thomas Kliche ist Politikpsychologe an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Er studierte Politik und Psychologie in München, Freiburg, London, Leningrad und Hamburg.

Verwendete Quellen und Nachweise:

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