Die Rufe nach einem Ende der Beschränkungen in der Coronakrise werden lauter und auch die Kritik an den Entscheidungsträgern wächst. Nehmen wir die aktuellen Maßnahmen zu klaglos hin? Wir haben einen Philosophen gefragt.

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Herr Gosepath, Anfang März haben Sie bei Deutschlandfunk Kultur gewarnt, bei Einschränkungen des öffentlichen Lebens wegen des Coronavirus sei eine "feine Balance" notwendig. Nach vier Krisenwochen fühlen sich viele Menschen mittlerweile eingesperrt und ihrer Freiheit beraubt. Hat die Bundesregierung aus Sicht des Philosophen Grenzen der Bevormundung überschritten?

Stefan Gosepath: Ich registriere im Moment noch eine sehr große Zustimmung der Bevölkerung zu den Maßnahmen der Regierung. Es hat allerdings eine Weile gedauert, bis die Politiker sich bemüht haben, ihre Politik zu erklären und die Bevölkerung auf den Weg des Krisenmanagements "mitzunehmen". Das ist wichtig, denn Politiker sind in der Demokratie nicht "die anderen", sondern von uns gewählte Vertreter.

Wir haben in den letzten Wochen immer wieder gehört, bestimmte Maßnahmen seien "alternativlos". Dürfen wir uns mit diesem Argument zufriedengeben?

Ich wehre mich entschieden gegen ein politisches Prinzip mit dem Motto "Wir können gar nicht anders" – diese These ist immer falsch. Die Politik stand vor Entscheidungen. Die mussten getroffen werden, aber sie waren nicht alternativlos. Das Problem ist, dass manche Alternativen, hart gesagt, mehr "kosten" als andere – zum Beispiel mehr Todesopfer, mehr Geld, mehr wirtschaftlichen Schaden. Aber es gibt immer Entscheidungsmöglichkeiten.

Setzt Entscheidungsfähigkeit nicht voraus, die Kosten genau zu kennen?

Das ist in diesem Fall nicht möglich, aber die Politik muss trotzdem abwägen – dann eben unter den Bedingungen von partiellem Unwissen – welche Maßnahmen den gewünschten Erfolg haben könnten.

Die Schriftstellerin und Juristin Juli Zeh hat in der "Süddeutschen Zeitung" vor zu weit gehenden Grundrechtseingriffen des Staates gewarnt. Sie sagt, es müsse immer das "mildest mögliche Mittel gewählt werden".

Es ist nicht leicht, sich darauf zu einigen, welches das richtige Maß ist. Hier in Berlin ist Joggen erlaubt, aber anfangs war es untersagt, sich in der Öffentlichkeit hinzusetzen. Das ist eine Diskriminierung für die Alten, die ja gar nicht mehr rauskönnen, wenn sie sich nicht zwischendurch mal setzen dürfen. Deshalb hat die Politik diese Bestimmung zurückgenommen. Wenn man merkt, dass etwas schiefgeht, muss man gegensteuern. Und man muss in kurzen Abständen immer wieder neu abwägen. Das leistet die Politik momentan meines Erachtens.

In Bayern schreitet die Polizei weiterhin ein, wenn man sich auf eine Parkbank setzt …

Auch in Frankreich gelten härtere Maßnahmen als bei uns. Im Nachhinein wird man möglicherweise sehen, was besser war, derzeit ist es dafür noch zu früh. Wer ein großes Haus mit Garten bewohnt, leidet weniger an Ausgangsbeschränkungen. Deshalb muss Politik "von den anderen her" denken, von denen, die schlechter gestellt sind. Wer in einer Zwei-Zimmer-Wohnung lebt, muss raus dürfen – ein totales Ausgangsverbot darf nicht sein.

Sind wir zu brav der Politik gegenüber? Sollten wir mehr Kritik üben?

Der Staat darf nicht zu mächtig werden – damit haben wir in Deutschland schlechte Erfahrungen gemacht. Wenn wir in einen Ausnahmezustand rutschen, wird der Staat zum "Anderen", zur Autorität – und wir werden zu Untertanen. Deshalb ist es wichtig, dass Intellektuelle wie Juli Zeh diese Gefahr sehen und sie artikulieren. Sie ist mit ihrer Sorge nicht allein – alle Intellektuellen sagen ja jetzt: Vorsicht, wir müssen wachsam sein!

Wolfgang Schäubles Vorschlag, dass in der Krisenzeit ein reduziertes Parlament die Entscheidungen fällen soll, ist glücklicherweise auf klare Ablehnung gestoßen. Die demokratische Repräsentation muss unbedingt funktionieren – und sie funktioniert. Die Presse funktioniert auch. Was allerdings zurzeit nicht funktioniert, ist die Demonstrationsfreiheit – das könnte dazu führen, dass bestimmte Gruppen, die ohnehin nicht gut wahrgenommen werden, noch weniger Chancen haben, sich bemerkbar zu machen. Wir sollten tatsächlich sehr sensibel sein und natürlich sollen Intellektuelle ihre kritische Stimme erheben.

Ist unsere Freiheit bedroht, weil Politiker zu viele Entscheidungen an Technokraten und Experten abgeben?

Die Krise hat uns mit vielen neuen Fakten konfrontiert, die weder Bürger noch Politiker vorher im Auge hatten. Aber sogar der Virologe Christian Drosten hat betont, dass die Wissenschaftler nicht die Entscheidungen treffen können – das ist Aufgabe der Politik. Die Menschen wünschen sich oft eine klare Ansage, aber in diesem Fall muss die Politik offen sagen: Es kann keine klaren Entscheidungen geben, sondern es sind mühsame Abwägungen.

Das gilt auch für die sogenannten Wirtschaftsweisen, die fatale Auswirkungen der Krise befürchten. Man weiß aber, dass sich die Ökonomen schon öfter mal geirrt haben – sie sind ja auch untereinander nicht einig. Aufgabe der Experten ist es, Fakten und mögliche Lösungsszenarien aufzeigen. Aber entscheiden müssen die Politiker, und meiner Wahrnehmung nach tun sie das auch.

Brauchen wir also starke Politiker?

Manche bewundern "starke Typen" wie Orbán, Erdogan oder Putin – aber deren autoritärer Führungsstil verträgt sich nicht mit Demokratie. Wir dürfen nicht alles delegieren – weder an Politiker noch an Experten noch an "starke Typen". Sondern wir müssen selbst mitreden, im Gespräch bleiben, überprüfen, ob wir akzeptieren, was die Politik vorschlägt.

Über den Experten: Professor Stefan Gosepath lehrt Philosophie an der Freien Universität Berlin.
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