Trotz Coronavirus-Pandemie läuft in Belarus das Leben fast normal weiter. Was hinter dem europaweit einmaligen Sonderweg von Präsident Alexander Lukaschenko steckt und wie die Menschen auf die auch in dem osteuropäischen Land steigenden Infiziertenzahlen reagieren, erklärt die belarussische Menschenrechtsaktivistin und Politologin Olga Karatsch im Interview.

Ein Interview

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Belarus (Weißrussland) ist das einzige Land in Europa, in dem auch an diesem Wochenende weiter Fußball gespielt wird. Vor Publikum, in Stadien mit mehreren Hundert Zuschauern. Präsident Alexander Lukaschenko hat bisher kaum Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie ergriffen.

Im Gegenteil: Der Staatschef, der die Ex-Sowjetrepublik seit über 25 Jahren autoritär führt, redete das Problem als "Psychose" klein, wetterte wiederholt gegen die "Corona-Panik" und machte sich über den Umgang vieler Staaten mit dem Virus lustig.

So erklärte der 65-Jährige am Rande eines Eishockey-Spiels einer TV-Reporterin: "Hier gibt es keine Viren. Haben Sie welche herumfliegen sehen? Ich sehe sie auch nicht." Im Kampf gegen SARS-CoV-2 empfahl Lukaschenko seinen Landleuten zudem, in die Sauna zu gehen und Wodka zu trinken.

Doch der Sonderweg, bei dem ausgerechnet ein Diktator auf beispiellose Freiheiten statt auf Verbote und Strafen setzt, könnte langfristige Folgen für das Regime haben, wie Olga Karatsch im Interview ausführt. Sie gründete 2005 das Menschenrechtsnetzwerk Nasch Dom (Unser Haus). Die Organisation sammelt unter anderem landesweit Corona-Fälle und unterstützt Betroffene. Im Gespräch erzählt Karatsch, wie die Situation vor Ort ist und wie die Menschen auf die steigenden Infiziertenzahlen reagieren.

Wie ist die derzeitige Situation in Belarus?

Olga Karatsch: Es ist nach wie vor alles offen: Läden, Restaurants, Diskotheken, Club und Bars. Fußball wird noch gespielt und die Regierung bereitet die große Parade zum 9. Mai vor, dem Tag des Sieges gegen Nazi-Deutschland, und organisiert Subbotniks.

Freiwillige, unbezahlte Arbeitseinsätze am Wochenende. Wobei freiwillig dabei ein dehnbarer Begriff ist.

Richtig. Dazu kommt das orthodoxe Osterfest am kommenden Wochenende. Schon jetzt ist abzusehen, dass viele Menschen in die Kirchen strömen werden – wo sie Kreuze und Ikonen küssen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sich dabei sehr viele Menschen anstecken werden.

Wie kann ich mir das Leben in der Hauptstadt Minsk vorstellen?

Die Straßen in Minsk sind merklich leerer, aber das Bild ist zweigeteilt: Die eine Hälfte der Bevölkerung hat Angst vor dem Coronavirus, sie misstraut der Regierung. Dieser Teil versucht sich, so gut es geht, in Selbstisolation zu begeben. Die zweite Hälfte glaubt an Lukaschenko, sie nimmt ihm ab, was er sagt. Dass das Virus nicht existiere und alles übertrieben sei. Dieser Teil ist sehr aktiv. Die Leute, die draußen sind, machen alles wie sonst auch.

"Viele Menschen sind von Lukaschenko enttäuscht"

Lukaschenko muss doch genau registriert haben, wie Wladimir Putin und die russische Führung mittlerweile auf die Krise reagieren. Und zwar wie fast überall in der EU mit umfassenden Kontaktbeschränkungen. Auch viele Belarussen dürften ganz genau beobachten, was im Nachbarland passiert.

Ich glaube, dass viele Menschen von Lukaschenko enttäuscht sind. Viele erwarten, dass er als Anführer in der Corona-Pandemie vorangeht. Das war die Erwartungshaltung. Doch nun müssen sich die Menschen seine blöden Witze anhören. In der Krise ist er kein starker Mann, er sagt gar nichts. Stattdessen müssen die Leute selbst aktiv werden. Zugleich schauen nun noch mehr nach Russland, viele sehnen sich nach einem Anführer wie Putin.

Und Lukaschenko unternimmt nichts?

Die belarussische Regierung behauptete schon im Februar, alles gegen das Virus vorzubereiten. Doch Lukaschenko hat eine starke Motivation, die Wirtschaft möglichst ungebremst am Laufen zu halten. Seit seinem Amtsantritt 1994 propagiert er, das Belarus das beste Wirtschaftssystem der Welt habe, er sei der beste Manager.

Der Staat kontrolliert noch immer etwa 80 Prozent der Industrie, das unterscheidet Belarus von seinen Nachbarstaaten.

Auch aus diesem Grund ist die Coronakrise für Lukaschenko der Moment der Wahrheit. Er kann die Leute, anders als vielleicht in Russland, nicht so einfach in bezahlten Urlaub schicken oder die Unternehmen für die Zeit der Pandemie von den Steuern befreien. Der Staat könnte das schlicht nicht finanzieren. Aus diesem Grund ist eine umfassende Quarantäne in Belarus für das Regime so kompliziert umzusetzen.

"Im Fernsehen kein Wort über das Virus"

Die offiziellen Zahlen zeigen einen starken Anstieg bei den Corona-Infizierten. Und das Regime reagiert weiterhin nicht?

Offiziell gibt es keinen Coronavirus, keine Pandemie. Im belarussischen Fernsehen werden die Vorbereitungen für die Militärparade am 9. Mai gezeigt, der Frühling – aber es wird kein Wort zum Virus gesagt. Doch anders als in der Vergangenheit und so wie noch nie zuvor sehen die Leute nun den Unterschied zwischen der Staatspropaganda und der Realität. Es existiert eine große Diskrepanz zwischen den Verlautbarungen von Lukaschenko und Gesundheitsminister Wladimir Karanik und dem, was die Leute direkt wahrnehmen: Jeder kennt mittlerweile jemanden, der eine Lungenentzündung hat, wie es offiziell genannt wird. Allerdings haben das in normalen Zeiten nur einige Leute, jetzt haben es ganze Familien, gleichzeitig. Das ist schon sehr, sehr auffällig.

Wie gut ist das Gesundheitssystem in Belarus auf COVID-19 vorbereitet?

Überhaupt nicht. Anders als behauptet, wurde nichts vorbereitet. Auch jetzt bekämpft das Regime lieber Informationen als das Virus. Die Haltung ist: Egal wie viele Menschen sterben, sie dürfen nicht die Wahrheit erfahren. Tatsächlich sind nur ein paar Krankenhäuser gut ausgestattet, vielleicht jedes zwanzigste. Zwei Beispiele: In der ganzen Stadt Witebsk gibt es nur zwei MRT – für 380.000 Einwohner! Und in Maladsetschna mit etwa 95.000 Einwohner gibt es kein einziges dieser Geräte. Obwohl diese gerade derzeit so wichtig sind. Dazu widerspricht sich Lukaschenko selbst: An einem Tag erklärte er, Belarus habe so viele Masken, dass man welche nach Deutschland verkauft hätte. Und am darauffolgenden Tag forderte er die staatlichen Fabriken auf, mehr Masken zu produzieren, weil es keine mehr gebe.

Fakt ist: In Belarus nähen nun Freiwillige zu Hause Masken und versorgen die Krankenhäuser mit Schutzkleidung. Viele Menschen haben angefangen, Geld und Hilfegesuche zu sammeln. Auch wir versuchen zu koordinieren.

"Alle Krankenhäuser sind voll!"

Nasch Dom sammelt und veröffentlicht alle bekannten Corona-Fälle in Belarus. Wie groß ist die Differenz zu den offiziellen Zahlen?

Wir haben angefangen die Infizierten und auch die Toten zu zählen, um zu verstehen, was hier wirklich passiert. Es ist schwer zu sagen, wie viele Corona-Infizierte es wirklich gibt. Dennoch: Alle Krankenhäuser sind voll! Die Behörden mussten Menschen mit Lungenentzündungen sogar in Psychiatrien, Frauenkliniken oder wie in Witebsk in ein Spital für Kriegsveteranen verlegen. Wir wissen, dass es viel mehr als die offiziell bisher 26 Toten gibt. Ich gehe von mehr als Hundert Toten aus, vielleicht noch viel mehr.

Was hat sich mit dem Coronavirus in Belarus verändert?

Wir selbst merken ein stark gestiegenes Interesse an dem Thema. Normalerweise erreichen wir über unsere Online-Kanäle etwa eine Million Menschen im Jahr, nun sind es seit dem 1. April bereits 500.000. Ich habe das Gefühl, dass seit 25 Jahren noch nie so viele Menschen mobilisiert worden sind wie jetzt. Es ist gut, dass viel passiert und dass die Leute selbst aktiv werden. Viele schreiben uns, dass sie in der Klinik oder erkrankt sind. Wir bekommen so viele Nachrichten, dass wir sie gar nicht alle einzeln beantworten können. Es ist unglaublich. Doch niemand weiß, was in einem Monat ist.

*Olga Karatsch ist Politikwissenschaftlerin sowie Gründerin und Direktorin des Menschenrechtsnetzwerks Nasch Dom (Unser Haus), das mittlerweile in 18 Städten in Belarus aktiv ist. Die Organisation deckt Missstände in der kommunalen und nationalen Politik auf und versucht mit öffentlichen Kampagnen Politiker und Behörden zur Rechenschaft zu ziehen. Wegen ihrer regimekritischen Arbeit wurde Karatsch bereits mehrfach bedroht, verprügelt und Dutzende Male verhaftet.
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