Jahrelang lebte das Ex-RAF-Mitglied Daniela Klette offenbar unbehelligt in Berlin-Kreuzberg. Wie konnte sich eine gesuchte ehemalige Terroristin so lange mitten in der Hauptstadt verstecken?

Mehr aktuelle News

Am Dienstag vermeldeten die Ermittlungsbehörden einen großen Erfolg: Die seit über 30 Jahren gesuchte Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette wurde festgenommen - mitten in Berlin. Dort lebte die heute 65-Jährige unter dem falschen Namen Claudia Ivone offenbar jahrelang unbehelligt in einem Wohnhaus in Kreuzberg.

Dass Daniela Klette ausgerechnet in der 3,6-Millionen-Einwohner-Metropole untergetaucht ist, überrascht Dirk Peglow, Erster Kriminalhauptkommissar und Vorsitzender des Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) nicht. "Eine Großstadt bietet natürlich Anonymität. In einem Dorf kann man nicht so leicht in der Masse untertauchen, die soziale Kontrolle ist dort wesentlich höher."

"Es gibt mittlerweile eine ganze Menge Menschen, die nichts mehr über die RAF wissen, geschweige denn über einzelne Personen."

Dirk Peglow, Erster Kriminalhauptkommissar und Vorsitzender des Bund Deutscher Kriminalbeamter

"Untertauchen" bedeutete im Fall Klette allerdings nicht, sich völlig im Untergrund zu verschanzen – zumindest nicht in den vergangenen paar Jahren. Als Claudia Ivone führte sie in Berlin ein überraschend normales Leben: Sie soll sich in der brasilianischen Community vor Ort engagiert haben, Kurse in der brasilianischen Kampfkunst Capoeira genommen und Schülerinnen und Schülern Mathe-Nachhilfe gegeben haben – und all das, ohne ihr Aussehen zu verändern. Trotzdem wurde sie von niemandem erkannt.

Auch das ist für den Ersten Kriminalhauptkommissar, der selbst nicht an den Ermittlungen zu Klette beteiligt ist, keine Überraschung. "Das Ganze ist über 30 Jahre her", gibt Peglow zu bedenken. Klette tauchte bereits 1989 ab, rund zehn Jahre, bevor sich die sogenannte "Rote-Armee-Fraktion" endgültig auflöste. Danach war sie nach Erkenntnissen der Ermittler an einer Serie von Überfällen auf Geldtransporter und Supermärkte beteiligt. Mutmaßlich, um sich das Leben im Untergrund zu finanzieren.

Doch selbst der letzte bekannte Raubüberfall, der Klette auf Basis von DNA-Proben zugeordnet werden konnte, liegt schon fast acht Jahre zurück. "Das bedeutet, es gibt mittlerweile eine ganze Menge Menschen, die nichts mehr über die RAF wissen, geschweige denn über einzelne Personen", sagt Peglow. Zudem seien die Bilder auf den Fahndungsplakaten, mit denen nach Klette und ihren früheren RAF-Komplizen Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg gesucht wird, alt und den wenigsten heute noch im Gedächtnis.

Daniela Klette: Eine nette, ältere Dame – und Ex-Terroristin

Gesucht wurde Daniela Klette wegen mehrfachen versuchten Mordes, Teilnahme an Sprengstoffanschlägen und zahlreichen bewaffneten Raubüberfällen. "Sie ist eine Terroristin, die schwerste Straftaten begangen hat", sagt Peglow. Diese Beschreibung steht in starkem Kontrast zu dem Bild, das ihr Umfeld in Berlin-Kreuzberg von Daniela Klette alias Claudia Ivone zeichnet. Eine nette, hilfsbereite ältere Dame sei sie gewesen.

"In der Gruppe der ganz normalen Leute mitzuschwimmen, ist vielleicht die beste Tarnung", sagt Peglow. "Wenn man in so überschaubaren Verhältnissen lebt, wie Frau Klette es offenbar getan hat, ist die Wahrscheinlichkeit aufzufallen geringer." Der Erste Kriminalhauptkommissar hält es theoretisch sogar für möglich, dass Klette mit ihrem gefälschten italienischen Pass die Kreuzberger Wohnung selbst gemietet hat und dort unter falschem Namen amtlich gemeldet war. Darüber ist bislang nichts bekannt, aber: "Das ist ohne tiefgreifende Überprüfung der vorgelegten Personaldokumente möglich", sagt Peglow.

Zwar verfüge die Polizei über Spezialistinnen und Spezialisten, die Dokumentenfälschungen erkennen können. Häufig werden gefälschte Dokumente jedoch nicht erkannt. "Fragen Sie sich selbst: Wie oft haben Sie Ihren Pass oder Ihren Personalausweis schon für Dinge eingesetzt, bei denen die biometrischen Merkmale einer genauen Prüfung unterzogen wurden? Praktisch nie." Einwohnermeldeämter seien ohnehin überlastet und Vermieterinnen und Vermieter nicht in der Lage, einen gefälschten Pass zu erkennen. "Ohne triftigen Grund wird den Pass auch niemand bei einer Dokumentenfälschungsstelle vorlegen", sagt Peglow.

Lesen Sie auch

Gesichtserkennungssoftware enttarnte Klette schon im Oktober

Fest steht, dass sich Daniela Klette in Berlin zuletzt sehr sicher gefühlt haben muss. So sicher, dass sie als "Claudia" etliche digitale Spuren im Netz hinterließ. Sie betrieb ein Facebook-Profil und ließ sich vom brasilianischen Kulturverein auf Gruppenfotos ablichten. Laut einem Bericht des "Spiegel" kursierten Bilder im Internet, die Klette unter anderem im Jahr 2011 in Berlin zeigen. Hätte sie darauf nicht jemand erkennen müssen?

Tatsächlich spürten sie die Macher des ARD-Podcasts "Legion" in Zusammenarbeit mit dem internationalen Recherchekollektiv Bellingcat anhand der Fotos schon im Oktober 2023 auf, wie der "Spiegel" berichtet. Die Journalisten speisten alte Fahndungsfotos von Klette in eine frei verfügbare Gesichtserkennungssoftware ein – und stießen so auf eine Frau namens Claudia Ivone, die bei einem brasilianischen Verein in Berlin Capoeira tanzte. Da Ivone alias Daniela Klette dort seit der Corona-Pandemie aber nicht mehr aufgetaucht war, verlief die Spur im Sande. Die Podcast-Macher wollten wohl selbst nicht recht glauben, dass sie die seit über 30 Jahren untergetauchte Daniela Klette mit einer halbstündigen Internetsuche mitten in Berlin aufgespürt hatten. Doch heute, ein halbes Jahr später, steht fest: Sie war es tatsächlich.

Wie genau die Polizei nun auf die Spur von Klette gekommen ist, dazu macht das federführende Landeskriminalamt Niedersachsen keine Angaben. Nach Aussage der niedersächsischen Innenministerin Daniela Behrens sei dabei aber keine Gesichtserkennungssoftware zum Einsatz gekommen. Doch wenn Journalisten offenbar in Minuten ein Fahndungserfolg gelingen kann – wieso setzt die Polizei nicht auch solche Mitteln ein, um gesuchte Personen wie Klette, Staub und Garweg ausfindig zu machen?

Rechtliche Grundlage für Internet-Recherche fehlt

"Der Polizei sind hier durch datenschutzrechtliche Vorgaben die Hände gebunden", sagt Peglow. Anders als Investigativjournalistinnen und -journalisten könne die Polizei nicht einfach frei verfügbare Tools nutzen, um eine Identifizierung von Täterinnen und Tätern durchzuführen - insbesondere dann, wenn die Server dieser Plattformen außerhalb von Europa stehen. "Wir können polizeiliche Daten nicht in ein System einspeisen, von dem wir nicht genau wissen, was mit diesen Daten passiert", sagt Peglow. Allein durch eine solche Suchanfrage könnten Ermittlungen offengelegt werden, befürchtet der Erste Kriminalhauptkommissar.

Aber auch Peglow sieht die Notwendigkeit. "Natürlich muss die Polizei Bilder von Tatverdächtigen im Internet recherchieren dürfen - aber wir brauchen dafür eine einwandfreie rechtliche Grundlage." Dem BDK-Vorsitzenden schwebt ein Verfahren analog zur Öffentlichkeitsfahndung vor: Führen herkömmliche Ermittlungen nicht zum Erfolg, darf sich die Polizei mit richterlichem Beschluss über die Staatsanwaltschaft an die Öffentlichkeit wenden und zum Beispiel Bilder von Tatverdächtigen veröffentlichen. "Es gibt also eine Kontrollinstanz. Das sollten wir so unbedingt auch für die Internet-Recherche umsetzen."

Womöglich könnten so in Zukunft auch weitere Ex-RAF-Mitglieder aufgespürt werden. Die dritte Generation der RAF, zu der auch Klette, Staub und Garweg zählen, soll aus mindestens 15 Mitgliedern bestanden haben. Neben Klette wurden Eva Haule (1986) und Birgit Hogefeld (1993) gefasst - demnach sind noch mindestens zwölf RAF-Mitglieder auf der Flucht.

Hatte Klette Unterstützer?

Ob sie sich ebenfalls in Deutschland aufhalten? Das einzuschätzen sei schwierig, so Peglow. Es komme auf die persönlichen Verbindungen der Personen an, ob sie Kontakte ins Ausland haben oder nicht. Peglow ist sich jedoch sicher, dass Klette und Co. Unterstützer hatten. "Für mich ist es relativ schwer vorstellbar, dass sie in den vergangenen 30 Jahren völlig autark gelebt haben sollen." Aus früheren RAF-Fällen sei bekannt, dass es Unterstützungen aus dem linksextremistischen Umfeld im In- und Ausland gegeben habe, etwa bei der Anmietung von Fahrzeugen, der Beschaffung von Geld, Pässen oder Waffen, die später bei Überfällen benutzt wurden.

Zumindest im Fall von Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg scheint die Polizei derzeit davon auszugehen, dass sie sich in Deutschland aufhalten. Wenige Tage nach der Festnahme von Daniela Klette wurden in Berlin zwei weitere Wohnungen durchsucht. Dass solche Meldungen nun Schlag auf Schlag kommen, nachdem 30 Jahre lang nur wenig passiert ist, ist aus Sicht von Peglow naheliegend. "Die drei Personen standen zumindest bei der Begehung von Straftaten in Kontakt. Es ist wahrscheinlich, dass bei der Festnahme von Frau Klette auch Hinweise auf den Aufenthaltsort der anderen Gesuchten gefunden wurden."

Zwar wurden Staub und Garweg bei den Durchsuchungen nicht aufgefunden, doch die Schlinge scheint sich enger zu ziehen. Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft Verden den flüchtigen Ex-RAF-Terroristen Garweg dazu aufgerufen, seine Deckung aufzugeben, um eine mögliche Eskalation zu vermeiden. Es scheint, als wäre es nur eine Frage der Zeit. "Sie können auf jeden Fall davon ausgehen, dass hier mit Hochdruck gearbeitet wird", sagt Peglow.

Falls Sie Hinweise zum Aufenthaltsort von Garweg oder Staub haben, können Sie sich an die Rufnummer (0511) 98 73 74 00 wenden.

Über den Gesprächspartner

  • Dirk Peglow ist Erster Kriminalhauptkommissar und Vorsitzender des Bund Deutscher Kriminalbeamter e.V.

Verwendete Quellen

Obst- und Gemüsebeutel im Supermarkt

EU steht vor Einigung: Wo es ab 2030 keine Plastikverpackungen mehr geben soll

In der EU soll der Verpackungsmüll deutlich reduziert werden. Bestimmte Einwegverpackungen sollen in daher künftig verboten werden.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.