• Drei Regierungen in drei Jahren: Italiens Politiker sind wankelmütig wie nie.
  • Nun ist der ehemalige EZB-Chef Mario Draghi Ministerpräsident.
  • Hat er es geschafft, etwas Ordnung ins italienische Parlament zu bringen?

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Im Ausland war Mario Draghi bei seinem Antritt als italienischer Ministerpräsident im Februar als großer Heilsbringer gefeiert worden. Die Annahme: Wer als Präsident die Europäische Zentralbank über viele Jahre erfolgreich geführt hatte, sollte das wohl auch im italienischen Parlament schaffen.

Auch die Italiener selbst legten alle Hoffnungen in Draghi, endlich ihre Regierung zu stabilisieren. Denn in der laufenden Legislaturperiode hat das Land bereits zwei Regierungen verschlissen und alle möglichen – sowie vorab undenkbaren – Koalitionen durchprobiert.

So regierten nach den Wahlen im März 2018 erst die Rechtspopulisten (die Lega unter der Führung Matteo Salvinis) mit den Vollblutpopulisten (die einst vom Komiker Beppe Grillo gegründete Fünf Sterne Bewegung). Nach 445 Tagen zerbrach die EU-kritische Koalition im Streit.

Anschließend vollführten die Fünf Sterne eine 180-Grad-Wende und taten sich mit ihrem ehemaligen Erzfeind – und ausgesprochenen EU-Befürworter – der Partito Democratico (PD) zusammen. Diese Regierung hielt sich 509 Tage an der Macht, bis sie am Protest einer Kleinst-Partei zerbrach, die ebenfalls zur Koalition gehörte.

Zu diesem Zeitpunkt, im Januar 2021, war an Wahlen nicht zu denken: Italien brauchte schnellstmöglich eine neue Regierung, die das Land aus der zweiten Corona-Welle und in die Verhandlungen mit der EU über die Verwendung der Gelder aus dem Corona-Wiederaufbaufonds "Next Generation EU" führen sollte.

Nicht-Politiker Draghi als Hoffnungsträger

So fiel die Wahl auf Draghi, der kein Politiker ist. Gerade deshalb, so die Hoffnung, sollte es dem ehemaligen Manager gelingen, zwischen den Parteien zu vermitteln. Seine Wirtschaftsexpertise und EU-Freundlichkeit galten außerdem als Stabilitätsgaranten für EU-Partner und Gläubiger an den Finanzmärkten. Draghi sollte es allen recht machen.

Dementsprechend breit ist auch das Bündnis, das seine Regierung stützt: Es besteht aus allen großen Parteien, die im Parlament vertreten sind, also den gescheiterten Partnern Lega, Fünf Sterne und PD plus Silvio Berlusconis Forza Italia.

Nun versuchen in dieser sogenannten Mehrheitsregierung naturgemäß alle Parteien ihre teils grundverschiedenen Ansichten und Schwerpunkte unterzubringen, um ihre Anhänger zufriedenzustellen. Denn die nächste Wahl kommt garantiert.

Regulär ist sie für 2023 angesetzt, doch niemand wäre überrascht, sollte es schon vorher eine erneute Regierungskrise geben. Daher liegt die Frage nahe, wie Draghi es unter diesen Umständen schaffen soll, alle Parteien zufriedenzustellen und die Regierung am Leben zu halten.

Lorenzo Di Sio, Politikwissenschaftler an der LUISS Guido Carli Universität in Rom, zieht ein positives Fazit über die ersten Regierungsmonate Draghis, der seit dem 13. Februar im Amt ist: "Die Zustimmung zur Regierung ist stabil und auch der Plan für die Verwendung der ‚Next Generation EU‘-Gelder ist rechtzeitig in Brüssel eingereicht worden." Und: Die Parteien haben untereinander noch nicht in den Angriffsmodus geschaltet.

"Keine Partei will derzeit Neuwahlen"

Zwar nutzen die Parteivorsitzenden jede Möglichkeit, um öffentlichkeitswirksam ihre Standpunkte zu vertreten. Lega-Chef Salvini etwa drängt lautstark auf weiterreichende Öffnungen und eine Lockerung der Corona-Ausgangssperre. PD-Vorsitzender Letta tritt indes für ein Gesetz gegen Homo-Transphobie und eine europäische Seerettungsmission ein. Beide überspannen den Bogen jedoch bewusst nicht, sodass kein offener Konflikt ausbricht.

Allein die Fünf Sterne sind aktuell vor allem mit sich selbst beschäftigt: Innerparteiliche Querelen verhindern, dass der Ex-Ministerpräsident Giuseppe Conte zum neuen Vorsitzenden der Bewegung gewählt werden kann. Derweil sorgte Gründer Grillo mit seiner öffentlichen Einmischung in die Ermittlungen um den Vergewaltigungsverdacht gegen seinen Sohn für negative Schlagzeilen, weshalb er politisch vorerst ruhiger geworden ist.

"Bei den Fünf Sternen findet gerade ein interner Machtkampf statt, der zwar zukünftig zu einer Aufspaltung führen könnte, derzeit aber keine Konsequenzen für die Regierung hat", erklärt Di Sio. Diese sei derzeit stabil. Allerdings glaubt Di Sio nicht, dass dieser Erfolg Draghis Werk ist. "Draghi muss sich nicht besonders darum bemühen, die Koalition zusammenzuhalten. Keine Partei will derzeit Neuwahlen."

Denn da nach dem dritten Regierungswechsel wirklich alle denkbaren Koalitionsoptionen durchgespielt sind, wären Neuwahlen der einzige Ausweg aus einer erneuten Regierungskrise. Di Sio macht vielmehr strategische Überlegungen für die Stabilität verantwortlich: "Alle Parteien bringen ein Opfer, indem sie an dieser Koalition beteiligt sind. In der so entstandenen Ruhepause können sie Allianzen bilden, die sie für die Wahl des neuen Staatspräsidenten Anfang 2022 brauchen."

Zäsur Staatspräsidentenwahl

Da der Staatspräsident in Italien eine wichtige richtungsgebende Funktion hat, ist seine Wahl für alle Parteien entscheidend. So beschießt der Präsident etwa bei einer Regierungskrise das weitere Vorgehen und legt fest, ob Neuwahlen ausgerufen oder ein weiterer Versuch der Regierungsbildung unternommen werden soll. So ist es auch Anfang des Jahres geschehen, als der derzeitige Staatspräsident Sergio Mattarella Draghi ein Mandat zur Regierungsbildung übertrug.

Und an der Wahl des Staatspräsidenten hängt noch eine weitere Besonderheit des italienischen Politikbetriebes, die dafür sorgt, dass es derzeit verhältnismäßig ruhig in der Mehrheitsregierung ist: Sechs Monate vor der Wahl beginnt das sogenannte weiße Semester, während dem das Parlament nicht aufgelöst werden kann. Hält die Regierung also bis Anfang Juli, muss sie bis zur Wahl Anfang 2022 bestehen bleiben.

In diesen Monaten kann Draghi weiter am Erfolg seiner Regierung arbeiten. "Zentral wird sein, ob Draghis Wette auf den wirtschaftlichen Neustart aufgeht", sagt Di Sio voraus. "Er will die Wirtschaft wiederbeleben, ohne die Pandemie erneut aufflammen zu lassen."

Entsprechend hat Italien zum 16. Mai seine Grenzen erneut für Touristen geöffnet und erlaubt bereits seit einigen Wochen offene Geschäfte sowie den Betrieb von Restaurants und Cafés im Außenbereich. Derzeit begünstigt das gute Wetter und die voranschreitende Impfkampagne diese Strategie. Sollte sie erfolgreich sein, wäre dies wichtiger Schritt für Italien, um sich auf der Krise der Pandemie zu befreien.

Und von diesem Erfolg hängt letztlich auch Draghis Zukunft in der Politik und die Stabilität der aktuellen Regierung ab. Sollte es gut laufen, ist es durchaus möglich, dass Draghi selbst Anfang 2022 zum neuen Staatspräsidenten Italien gewählt werden wird. "Doch ob es dazu kommt, ist wie bei der Wahl eines neuen Papstes: unmöglich vorherzusagen", sagt Di Sio. Das Gleiche gilt für die Frage über den Fortbestand der Regierungskoalition ab 2022.

Über den Experten
Lorenzo Di Sio ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität LUISS Guido Carli in Rom, wo er zum Wählerverhalten und der italienischen Parteienlandschaft forscht. Er hat den Aufstieg der Fünf Sterne Bewegung erforscht und veröffentlichte zuletzt einen Aufsatz über die Herausforderungen, die ideologische Strategie einer Partei an Veränderungen anzupassen.
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