Zum 70. Mal jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs. Eng mit der Naziherrschaft verbunden sind die Gräueltaten in den deutschen Vernichtungslagern, den so genannten Konzentrationslagern (KZ). Katharina Hardy war in den Lagern Ravensbrück und Bergen-Belsen inhaftiert. Wir sprachen mit der Überlebenden über die traumatischen Erlebnisse in ihrer Jugendzeit.

Ein Interview

An was erinnern Sie sich aus Ihrer Kindheit?

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Katharina Hardy: Das war keine ungetrübte Kindheit. Der Antisemitismus war von Anfang an da. Ich erinnere mich an keinen Tag, wo er nicht da war.

Ich bin 1928 in Budapest in Ungarn geboren. Mit sechs Jahren habe ich begonnen, Geige zu lernen, meine Schwester hat Klavier gespielt. Ich war zuerst auf der Primarschule, später auf dem Gymnasium. Ich wurde aber gezwungen auf ein jüdisches Gymnasium zu gehen. Dort konnte ich bis zu meinem 15. Lebensjahr bleiben.

Was ist dann passiert?

Am 19. März 1944 sind die Deutschen in Budapest einmarschiert. Unsere vierköpfige Familie stand am Fenster, das weiß ich noch genau, und hat das Ereignis verfolgt. Ich musste sofort die Schule verlassen. Im Mai hat man meine Großeltern, meine Tanten, Onkel, alle, alle nach Auschwitz gebracht.

Im Oktober 1944 hat man meinen Vater abgeholt, im November 1944 kamen meine Schwester und ich dran. Zuerst hat man uns in ein Übergangslager bei Budapest gesteckt. Aber am 14. November hat man uns nach Hause entlassen und der deutsche Offizier sagte: "Und jetzt kommt es dann!"

Dann sind Sie endgültig von zu Hause weggekommen.

Am nächsten Tag sind meine Mutter und ich abgeholt worden. Dann begann ein Marsch von 120 Kilometern zu Fuß zur ersten Zwischenstation. Es hat geschneit und war kalt. Wir haben unter freiem Himmel auf Fußballplätzen geschlafen. Meine Mutter hat mich die ganze Zeit geschüttelt, dass ich nicht erfriere.

Außerdem gab es Bombenangriffe. Meine Mutter hat gebetet, dass uns eine Bombe trifft, damit die schreckliche Sache ein Ende nimmt. Ich habe gebetet, bitte schicke keine Bombe, ich habe noch überhaupt nicht gelebt. Auf unserem weiteren Marsch quer durch Ungarn war es mit der Hygiene katastrophal. So ist meine Mutter an Ruhr erkrankt. Ich habe sie hinter mir hergezogen. Sie sagte nur: "Die machen sowieso Seife aus mir." Ich habe das nicht direkt mitbekommen, aber in einer Festung hat man wahrscheinlich meine Mutter umgebracht. Wir anderen wurden weiter zu Fuß zur Bahn getrieben, wo wir in Wagons nach Ravensbrück kamen.

Wie lange waren Sie im KZ Ravensbrück?

Ich war im Januar und Februar 1945 in Ravensbrück. Wahrscheinlich weil die Alliierten vorgerückt sind, ging es weiter nach Bergen-Belsen.

Gab es in den Konzentrationslagern so etwas wie Normalität?

Nein, das gab es nicht. Wir mussten sieben Tage in der Woche arbeiten und jeden Tag zum Appell stramm stehen. Wer nicht mehr arbeiten konnte, wurde erschossen. Dort hat man die Leute zu Tode geprügelt. Und es gab viele andere Gräueltaten.

Über Ravensbrück spreche ich eigentlich nicht, weil es so grausam war. Trotzdem will ich eine kleine Episode erzählen: Ich hatte, weil ich so schwach war, Probleme mit dem Gleichgewicht. Da war eine 19 Jahre alte Kommunistin, die sagte, pass auf, sonst töten sie dich. Deswegen stand sie immer bei der Essenausgabe direkt hinter mir und hat mir sehr geholfen.

Wie haben Sie die Befreiung von Bergen-Belsen am 15. April 1945 erlebt?

Ich wurde zufällig in einer Baracke gefunden. Ich hatte die Beine angewinkelt und war bis auf 29 Kilogramm Gewicht abgemagert. Man hat mich auf eine Bahre gehoben und ich sollte meine Beine austrecken, das konnte ich jedoch nicht. Ich war anschließend bis Juni 1945 im Lazarett. Ich hatte viele innere Verletzungen. Ich konnte nicht schlucken oder essen. Nichts ging mehr.

Im Juni wog ich 35 Kilogramm, wurde aus dem Lazarett entlassen und musste wieder laufen und vieles andere lernen. Auf einer Liste im Konzentrationslager habe ich, als es mir etwas besser ging, den Namen meines Vaters entdeckt. Er hatte wie ich überlebt. Wie er bin ich nach Budapest zurückgegangen.

Wie sind Sie später in die Schweiz gekommen?

Das war 1956 nach den ungarischen Aufständen. Da sind wir geflüchtet, denn nach dem Holocaust kamen zehn qualvolle Jahre in Ungarn.

Konnten Sie in der Schweiz Ihre schrecklichen Erlebnisse allmählich verarbeiten?

Nein, der Holocaust hört für mich nicht auf. Das geht ständig weiter.

Aber es ist Ihnen in der Schweiz doch besser gegangen.

Das ist eine lustige Aussage. Es ging uns natürlich besser. Aber bis heute habe ich das Gefühl, dass ich in Ferien bin. Sie können sich nicht vorstellen, was ich erleben musste. Ich kann das nicht einfach abstreifen. Das ist alles noch immer da. Es ist nicht möglich, davon loszukommen.

Selbst in meinem Alter gibt es Überlebende, die sich noch umbringen.

Wir machen einen großen Sprung in die Gegenwart: Wenn Sie heute an Deutschland denken, was kommen Ihnen dann für Gedanken?

Ich empfinde keinen Hass. Die heutige Generation kann nichts dafür, was passiert ist. Bei den Gedenkfeiern in Bergen-Belsen konnte ich erleben, wie sich die Deutschen bemühen, dass sowas nicht wieder geschieht. Es gibt sehr viel Anteilnahme. Das ist fantastisch.

Was ist Ihnen wichtig, der aktuellen Generation weiterzugeben?

Ich habe gerade einen Vortrag vor internationalem Publikum gehalten. Danach kamen einige Teilnehmer auf mich zu und sagten mit Tränen in den Augen, dass sie sich nicht vorstellen können, was ich durchgemacht habe. Ich habe meine Geschichte erzählt, mehr kann ich nicht tun.

Die Jüdin Katharina Hardy wurde 1928 in Budapest geboren. Nach ihrer Inhaftierung in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Bergen-Belsen ging sie mit ihrem Vater 1945 zurück nach Ungarn. Von dort flüchtete sie 1956 in die Schweiz. Die Geigerin war über 18 Jahre Mitglied des Stadtorchesters Winterthur, unterrichtete am dortigen Konservatorium und trat als Solistin bei zahlreichen Konzerten auf. 1987 gründete die gebürtige Ungarin die "Goppisberger Musikwochen" für Streichernachwuchs. Heute lebt Katharina Hardy in Zürich und unterrichtet Geigenschüler.
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