Digitalisierung ist für Deutschland noch immer Neuland. Das wollte schon das Merkel-Kabinett ändern – Digitalminister Volker Wissing (parteilos) hatte ebenfalls große Ambitionen für seine Amtszeit. Passiert ist jedoch wenig.
Deutschland soll eines der digitalsten Länder Europas werden. Das war zumindest das selbsternannte Ziel der Digitalstrategie der Bundesregierung. Mindestens in die Top 10 wollte es Digitalminister
Dabei sollte mit der Ampel alles besser werden als in der zuvor CDU-geführten Regierung. Die selbsternannte Fortschrittskoalition wollte etwas wagen, digitalpolitisch den Turbo zünden. "Diese jetzt schon nicht mehr bestehende Ampelregierung ist mit einem sehr ambitionierten Koalitionsvertrag gestartet", sagt Beckedahl im Gespräch mit unserer Redaktion. "Man wollte alles besser machen, digital denken. In der Praxis zeigte sich aber relativ schnell, dass diese meisten Versprechungen eher Luftblasen waren, die geplatzt sind."
Verdeutlicht wird das etwa durch den Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft (DESI). Er verfolgt den Fortschritt der Mitgliedsstaaten in der Digitalisierung und wird einmal im Jahr durch die Europäische Kommission veröffentlicht. Deutschland hat es sich hier als reichste und stärkste Wirtschaftsnation im Vergleich im Mittelfeld bequem gemacht – mit viel Luft nach oben.
Auch der Digitalmonitor des Digitalverbands Bitkom zeichnet ein düsteres Bild. 104 Vorhaben von 334 hat die Bundesregierung in ihrer Amtszeit geschafft – wie etwa Online-Visa für ausländische Fachkräfte oder die Stärkung der digitalen Teilhabe älterer Menschen. Zugegeben, der Regierung fehlte ein knappes Jahr Arbeitszeit. Doch auch die Fortschrittsprognose im Monitor auf Basis der bisherigen Umsetzungsgeschwindigkeit hätte keinen Turbo mehr versprochen: Demnach wäre die Ampel, hätte sie bis zum Ende ihrer Legislatur gehalten, im Oktober 2025 bei mindestens 128 abgeschlossenen Projekten gelandet. Nicht einmal die Hälfte der geplanten Vorhaben.
Ampel hat Digital-Versprechen nicht eingelöst
Bitkom-Hauptgeschäftsführer Bernhard Rohleder ordnet auf Anfrage unserer Redaktion ein: "Die Ampel-Koalition wollte beim Thema Digitalisierung einen Aufbruch wagen – dieses Versprechen hat sie nicht eingelöst, es sind gerade einmal ein Drittel der Digitalvorhaben aus Koalitionsvertrag und Digitalstrategie umgesetzt." Der nun eingetretene "digitalpolitische Stillstand ist für die deutsche Wirtschaft und für die öffentlichen Verwaltungen fatal", meint Rohleder.
Mit Stillstand wollte die Ampel allerdings nicht in Verbindung gebracht werden. Das Thema Digitalisierung wird in ihrem Koalitionsvertrag direkt im ersten Teil behandelt. "Deutschland braucht einen umfassenden digitalen Aufbruch", heißt es darin. Dafür sollte unter anderem ein Digitalbudget geschaffen, eine Digitalstrategie mit 18 Leuchtturmprojekten verabschiedet und ein Beirat Digitalstrategie gegründet werden.
Doch bereits hier haperte es: Das Digitalbudget ist weitestgehend im Haushaltsloch untergegangen. Der Digitalbeirat hingegen hat sich einmal im Monat getroffen und jedes Mal eines der sogenannten Leuchtturmprojekt vorgestellt. Die sieht Beckedahl jedoch kritisch: Das seien "diese Großprojekte, die man auf dem Digitalgipfel mit blumigen Worten und bunten PowerPointfolien präsentiert bekommt, in die viel Beratergeld reingeflossen ist. Aber eigentlich wissen alle schon sofort: Das wird wahrscheinlich nichts."
Digital-Experte sieht Verantwortungsdiffusion in Ampel
Der Digitalexperte sieht den Grund für die gescheiterte Digitaloffensive in einer fehlenden Koordinierung innerhalb der Bundesregierung: "Niemand fühlte sich verantwortlich und die Koordinierung in der Bundesregierung war noch schlechter als in der früheren Bundesregierung." Nach den Koalitionsverhandlungen ist das Digitalministerium gemeinsam mit dem Verkehrsministerium zum früheren FDP-Politiker Volker Wissing gewandert. Ein Fehler, findet Beckedahl. In der Ampelregierung habe es eine Verantwortungsdiffusion gegeben. "Jedes Ministerium war auch ein bisschen digital." Außer den Grundlagen der Digitalpolitik sei im Verkehrsministerium allerdings nicht viel mehr passiert, sagt er. Deshalb sei Beckedahl inzwischen ein Befürworter eines eigenen Digitalministeriums. Dabei komme es jedoch immer darauf an, wer es führt.
Digitalstrategie: Was eine neue Regierung anpacken muss
Angesichts der derzeitigen Wahlumfragen, die einen Wahlsieg der Unionsparteien zur Bundestagswahl nahelegen, blickt Beckedahl eher pessimistisch in die Zukunft. "Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber ich habe keine Hoffnung mehr, dass die deutsche Digitalpolitik in absehbarer Zeit besser wird", sagt der Digitalexperte. "Im Gegenteil." Als Beispiel führt er die Beteiligung der Zivilgesellschaft an Digital-Projekten an. Diese "dürfte im nächsten Jahr wieder zurückgefahren werden, wenn die Union wieder diverse Ministerien übernimmt. Das kennen wir schon aus der Zeit von Angela Merkel."
Deshalb müsse sich dringend einiges ändern. "Es braucht mehr Anstrengungen, gemeinwohlorientierte digitalpolitische Projekte voranzubringen, um das Vertrauen der Bevölkerung in politische Prozesse und diese digitale Gesellschaft zu stärken", findet Beckedahl. Konkret müssten etwa die Investitionen in Open-Source-Software massiv steigen. Damit gemeint ist, dass die Software transparent programmiert, also für jeden einsehbar ist. Ein prominentes Beispiel ist die Corona-Warnapp.
Bitkom-Hauptgeschäftsführer Rohleder sieht ebenfalls Nachholbedarf, wenn auch aus seiner Sicht nicht alles schlecht lief. Wie etwa das Digitalgesetz in der Gesundheitspolitik oder der 5G-Netzausbau. Trotzdem findet Rohleder: "Die nächste Bundesregierung muss unter Beweis stellen, dass Politik handlungsbereit und handlungsfähig ist, Herausforderungen und Probleme erkennt, angeht und löst." Dafür müsse sie die Digitalpolitik zu einem ihrer Schwerpunkte machen. "Ein Weiter-so ist dabei keine Option, Deutschland braucht einen Neustart."
Er wird noch deutlicher und schlägt damit in dieselbe Kerbe wie Beckedahl: "Fortschritt wird nur erreicht, wenn es innerhalb der Bundesregierung einen Antreiber für die Digitalthemen gibt. Es braucht daher einen echten Digitalminister – oder eine Digitalministerin – keinen Teilzeitminister fürs Digitale."
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Markus Beckedahl
- Anfrage an Bernhardt Rohleder
- Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien
- Bitkom Digitalmonitor
- Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft (DESI)
Offenlegung
- WEB.DE und GMX sind Teil der United Internet AG, zu der auch 1&1 gehört. 1&1 ist ein Telekommunikationsunternehmen, das auch Digitalprodukte anbietet.
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