Der deutsche Journalist Jürgen Todenhöfer zieht nach seinem Besuch beim "Islamischen Staat" eine brisante Bilanz. Nach zehn Tagen in Syrien ist er der Ansicht, der Westen unterschätze die Gefahr dramatisch.
Jürgen Todenhöfer hat die stärksten Eindrücke seiner Reise zum "Islamischen Staat" (IS) zusammengefasst. Der deutsche Journalist war vergangene Woche nach Syrien gereist - und machte sich als nach eigenen Angaben "erster westlicher Publizist der Welt" selbst ein Bild vom IS-Kalifat.
"Der Westen unterschätzt die Dimension der IS-Gefahr dramatisch", urteilt Todenhöfer. Die IS-Kämpfer seien "erheblich cleverer und gefährlicher, als unsere Politiker annehmen". Im "Islamischen Staat" herrsche "eine fast rauschartige Begeisterung und Siegeszuversicht".
Die IS-Miliz hatte im Juni mit Mossul die zweitgrößte Stadt im Irak eingenommen und dann im Westen und Norden fast ein Drittel des Landes erobert. Eine ähnlich große Fläche kontrollieren die Dschihadisten im benachbarten Syrien. In den von ihnen eroberten Gebieten riefen sie ein "Kalifat" aus, in dem sie mit blutiger Gewalt gegen Andersgläubige, Minderheiten und jede Form von Widerstand vorgehen.
Gebietsverluste interessieren den IS nicht
"Der IS hat in wenigen Monaten ein Staatsgebiet erobert, das größer ist als Großbritannien", betont Todenhöfer. "Al-Kaida ist daneben ein Zwerg." Gebietsverluste interessierten den IS wenig. Sie seien im Guerilla-Krieg normal.
Nach Niederlagen gegen kurdische Peschmerga-Kämpfer am Wochenende ging der IS wieder in die Offensive. Dschihadisten griffen in Bakuba, rund 50 Kilometer nördlich von Bagdad, Lager der irakischen Armee an. Bei den Gefechten seien mindestens 33 Menschen getötet worden, sagte ein irakischer Sicherheitsbeamter der Deutschen Presse-Agentur.
Jürgen Todenhöfer zufolge reißt der Zustrom neuer Kämpfer zum IS nicht ab. "Ich verbrachte zwei Tage in einem Aufnahme-Lager des IS nahe der türkischen Grenze. An beiden Tagen kamen jedes Mal über 50 Kämpfer aus aller Welt an", schildert der Journalist. "Nicht etwa nur junge Männer, die in ihren Heimatländern gescheitert waren. Auch viele erfolgreiche, euphorisch gestimmte junge Leute aus den USA, England, Schweden, Russland, Frankreich, Deutschland. Einer hatte erst vor wenigen Wochen sein juristisches Staatsexamen bestanden und war gerade als Anwalt bei Gericht zugelassen worden. Er aber wollte lieber im 'Islamischen Staat' kämpfen."
Die Terrormiliz stützt sich im Irak wie in Syrien auf Muslime sunnitischer Glaubensrichtung. Diese betrachten den IS als eine Art Schutzmacht gegen Übergriffe schiitischer Armeeeinheiten.
"Größte 'religiöse Säuberung' in der Geschichte der Menschheit"
Ziel des IS ist es laut Todenhöfer, nicht nur den Nahen Osten und eines Tages die übrige Welt zu erobern, sondern die "größte 'religiöse Säuberung' in der Geschichte der Menschheit". Der IS wolle mit Ausnahme der Buchreligionen - dem "IS-Islam", dem Judentum und dem Christentum - alle Nichtgläubigen und Abtrünnigen töten. "Alle Schiiten, Jesiden, Hindus, Atheisten und Polytheisten sollen sterben", schreibt Todenhöfer. Er sieht den IS als "eine einprozentige Bewegung mit der Wirkung eines nuklearen Tsunamis". Mit Bomben und Raketen sei die Terrormiliz nicht zu besiegen. Nur die gemäßigten sunnitischen Araber könnten den IS stoppen, nicht aber der Westen. "Aus meiner Sicht ist der IS zurzeit die größte Bedrohung des Weltfriedens seit dem Kalten Krieg. Wir bezahlen jetzt den Preis für den an Torheit kaum zu überbietenden Überfall George W. Bushs auf den Irak."
In einem Interview mit dem Fernsehsender CNN sagte Todenhöfer am Montag, in Mossul "herrscht ein grausiger Anschein von Normalität". Obwohl Hunderttausende geflohen und viele ermordet worden seien, funktioniere die Stadt. "Die Menschen mögen tatsächlich die Stabilität, die ihnen der Islamische Staat gebracht hat." Allerdings basiere die Regentschaft der Dschihadisten auf einer Atmosphäre der Angst.
Mit Material von dpa
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