Die Staats- und Regierungschefs verhandeln seit Sonntagnachmittag über die künftige Führung der Europäischen Union, auch nachts. Wie hält man solche Mammutsitzungen durch? Wie sind die Abläufe? Wie kommen Entscheidungen zustande? Fließt Alkohol? Wir haben den erfahrenen Grünen-Politiker und Ex-Umweltminister Jürgen Trittin gefragt, bekannt für sein "Sitzfleisch'" und seine Ausdauer in schwierigen Verhandlungen.

Ein Interview

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Herr Trittin, auf dem EU-Sondergipfel in Brüssel werden ausgiebig die EU-Spitzenposten verhandelt, auch die Nacht durch. Wie läuft so ein Gipfel ab? Wer verhandelt wann wo mit wem? Was sind die Vorschriften?

Jürgen Trittin: Hier geht es um eine schwierige Einigung. Kommissionspräsident kann man nur auf Vorschlag einer Mehrheit im Rat mit der Mehrheit des Parlaments werden. Für eine so komplizierte Frage gibt es Verfahrensregeln.

Es beginnt damit, wo die Verhandlungsteilnehmer zu sitzen haben, das richtet sich nach den rotierenden Präsidentschaften. Dann kommt es darauf an, ob es sich um ein kleines oder großes Format handelt.

Bei den großen Formaten sitzen die gesamten Delegationen mit am Tisch. Die reguläre Ratssitzung ist ein solches Format und wird mittlerweile komplett öffentlich übertragen.

Wenn man in solch einer Sitzung aber nicht vorankommt, was passiert dann?

Dann gibt es das sogenannte Mittagessen oder Abendessen. Dort geht der jeweilige Präsident oder die Regierungschefin in der Regel mit einem Delegationsvertreter hin, und dann unterhält man sich dort weiter.

Welche Rolle spielt die Sprache?

Die Simultanübersetzung ist ein limitierender Faktor bei solchen Zusammenkünften, weil die Übersetzer natürlich Arbeitszeiten haben, die nicht unendlich gedehnt werden können. De facto - ich vermute, dass das im Rat jetzt auch so ist – gibt es aber eine Sprache, in der man sich auch direkt verständigt, das ist das Englische.

Diejenigen, die in der Lage sind, auf Englisch zu verhandeln, haben natürlich einen klaren Vorteil. Manchmal hilft es, dem Verhandlungspartner zu sagen: "Leg' mal deinen Sprechzettel weg, was wollt ihr eigentlich wirklich?".

Wie wichtig sind die persönlichen, zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen den Staats- und Regierungschefs?

Darum geht es weniger. Wichtiger ist, dass man weiß, welche Interessen der jeweilige Gesprächspartner vertritt. Um ein Ergebnis zu erzielen, müssen Sie einen Interessenausgleich erreichen. Ob Sie zum Beispiel Emmanuel Macron persönlich gut leiden können oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Sie müssen wissen, wo das Potential für Kompromisse liegt.

Haben Sie ein Beispiel?

Frankreich hat beispielsweise im Zusammenhang mit Handel ein besonderes Schutzinteresse für die eigene Landwirtschaft. Das ist völlig unabhängig davon, wer in Frankreich Präsident ist. Ob das nun Macron ist oder früher Hollande, Sarkozy oder Chirac.

Und wenn auch beim Abendessen kein Ergebnis zustande kommt?

Dann gibt es noch ein weiteres Format, das EU-Ratspräsident Donald Tusk jetzt auch angewendet hat. In internationalen Verhandlungen nennen wir das "Beichtstuhl-Verfahren".

Was steckt dahinter?

Das ist ein sehr gebräuchliches Verfahren. Derjenige, der damit beauftragt wurde, einen Kompromiss zu finden, lädt einzelne Delegationen zu sich ein, um die offenen Fragen zu diskutieren - entweder jede für sich oder zwei, drei Gruppen auf einmal - und tariert die Interessen aus.

Welche Rolle spielt der Alkohol in solchen Sitzungen zu vorgerückter Stunde?

Wenn es ernst wird, spielt er gar keine Rolle. Es geht ja für jeden Teilnehmer um viel, unter anderem darum, wie groß künftig der Einfluss eines Landes in den europäischen Institutionen sein wird. Da ist man gut beraten, hellwach zu sein.

Wie halten Sie sich in solchen Sitzungen wach?

Zunächst versuche ich, möglichst ausgeschlafen dorthin zu kommen, und dann achte ich darauf, hinreichend Wasser zu trinken. Dehydrierung ist ganz schlecht, das kennt man aus der Sportwelt.

Gibt es irgendwann eine Stimmung nach dem Motto: "Ganz egal, wie wir uns jetzt entscheiden, Hauptsache wir entscheiden, und die Sitzung ist endlich vorbei"?

Das kommt auf die Art der Sitzung an: Muss das Ergebnis einstimmig beschlossen werden oder mit einer Mehrheit? Im Europäischen Rat ist es so, dass im Zweifelsfall bestimmte Staaten überstimmt werden können. (Es ist eine Mehrheit von 21 Staaten erforderlich, die 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren; Anmerk. d. Red.).

Das strebt man nicht an und das passiert übrigens auch nur extrem selten. Aber die Möglichkeit besteht. Und vor die Wahl gestellt, überstimmt zu werden, fangen manche Staaten dann an zu sagen: "Was gibt’s dafür, wenn wir doch zustimmen?" So finden dann auch Konsensbildungen statt.

Wie kann man sich das konkret vorstellen?

Ach, teilweise geht das auch locker zu. Ich erinnere mich, wie wir mal über Recyclingquoten beim Plastik auf europäischer Ebene verhandelt haben.

Wir wollten eine Quote von 25 Prozent, die Mehrheit der Mitgliedstaaten auch. Doch Italien wollte nur maximal 20 Prozent. Und dann habe ich dem italienischen Kollegen zugerufen "Ventiquattro". Daraufhin sagte er: "Ventuno".

Am Ende haben wir uns bei 22,5 geeinigt. War fachlich also eine komplett wissenschaftlich begründete Quote. Aber so kommt man zu einer Einigung (lacht).

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