In Syrien kam es zuletzt zu zahlreichen Gewaltakten. Menschenrechtsorganisationen sprechen von Massakern an Angehörigen von Minderheiten und fordern die von Islamisten dominierte Regierung auf, entschlossen gegen die Gewalt anzugehen. Was genau passiert in dem Land?
Nach dem überraschenden Sturz des syrischen Machthabers Baschar Al-Assad im vergangenen Dezember übernahm die islamistische HTS-Miliz die Macht in der Hauptstadt Damaskus. Dessen Anführer hatte behauptet, das Land nach dem über ein Jahrzehnt andauernden Bürgerkrieg befrieden zu wollen und die Minderheiten im Land zu schützen. Schon damals gab es Zweifel am Versprechen des ehemaligen Terroristen-Anführers. Sie haben sich bestätigt.
Denn nun kam es zu erneuter Gewalt, an der auch Truppen der neuen Regierung beteiligt waren. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte sprach von "Massakern". Unsere Redaktion hat die wichtigsten Informationen zur Entwicklung in Syrien zusammengetragen.
Was passiert aktuell in Syrien?
Die neue Regierung unter dem ehemaligen Terroristen-Anführer der HTS-Miliz, Ahmad al-Scharaa, ist im Moment dabei, die vielen verschiedenen Milizen und Rebellengruppen ebenso wie die kurdischen Kämpfer im Norden und die ehemaligen Assad-Soldaten in eine offizielle syrische Armee einzugliedern. Das gestaltet sich schwierig: Viele Kämpfer sind bereits seit Jahren im Krieg, sind teilweise verroht und hegen Rache-Gelüste gegenüber der anderen Seite.
Nun haben Assad-Getreue in Westsyrien eine Patrouille der Übergangsregierung angegriffen. Die Regierung in Damaskus schickte ihrerseits Truppen in die Region. Anschließend soll es zu zahlreichen Übergriffen durch sunnitische Milizen gegen die Zivilbevölkerung der alawitischen Minderheit in den Orten Latakia, Tartus und Hama gekommen sein.
Wer wirft wem was vor?
Das in Großbritannien ansässige Syrische Netzwerk für Menschenrechte macht die Milizen für den Tod von 803 Menschen verantwortlich – darunter 49 Frauen und 39 Kinder. Mindestens 211 Zivilisten seien durch gezielte Schüsse getötet worden sein. 420 weitere, darunter medizinisches Personal, seien während Militäroperationen ums Leben gekommen. Die Menschenrechtsorganisation fordert eine unabhängige Untersuchung, ebenso wie Maßnahmen, die Zivilbevölkerung vor weiterer Gewalt zu schützen.
Auch Amnesty International verurteilt die Eskalation der Gewalt scharf. Die Behörden müssten dringend Maßnahmen ergreifen, um die Gleichberechtigung aller Syrer zu gewährleisten. "Sie müssen unter anderem sicherstellen, dass keine Person oder Gruppe wegen ihrer vermeintlichen politischen Zugehörigkeit ins Visier genommen wird", erklärte Heba Morayef, Regionaldirektorin von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika.
Der Erzbischof von Homs, Jacques Mourad, sprach laut Website der Katholischen Kirche von einem "Völkermord". Auch der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Ramy Abdulrahman, erklärte gegenüber der ARD: "Den Massakern ging ein öffentlicher Aufruf zum Dschihad voraus, als wäre es eine Kriegsschlacht. Es gibt Videoaufnahmen, in denen gesagt wird: 'Wir sind gekommen, um die Alawiten zu töten.' Sie sagten nicht: 'Wir sind gekommen, um die Assad-Anhänger zu töten.' Das zeigt, dass es sich um eine ethnische Säuberung handelt. Das darf nicht straflos bleiben."
Auch die Europäische Union und die deutsche Bundesregierung verurteilten die Gewalt und nahmen die Übergangsregierung in die Verantwortung. Das Auswärtige Amt erklärte in einer Pressemitteilung: "Die Übergangsregierung steht in der Verantwortung, weitere Übergriffe zu verhindern, die Vorfälle aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen."
Wie reagieren die Beteiligten?
Übergangspräsident Scharaa kündigte am vergangenen Montag an, die Verantwortlichen für die Übergriffe zur Rechenschaft zu ziehen. Das soll durch einen unabhängigen Ausschuss geschehen, dem auch Mitglieder der Opposition angehören sollen. Scharaa sagte der Nachrichtenagentur Reuters, dass Syrien ein Rechtsstaat sei und solche Taten nicht geduldet würden.
Zweifel, ob die neuen Machthaber das ernst meinen, gibt es aber schon länger. Die HTS-Miliz gilt als islamistisch. Ihr Anführer, damals noch unter dem Kampfnamen Muhammad al-Dscholani, war als Teil der Terrororganisation Al-Quaida zeitweise durch US-Streitkräfte inhaftiert worden.
Der Chef der Übergangsregierung in Damaskus machte für den Ausbruch der Gewalt eine Assad-treue Militäreinheit verantwortlich, ebenso eine nicht näher bezeichnete ausländische Macht. Allerdings gab der Regierungschef zu, dass es in der Folge zu Gewalttaten kam. Es sei Rache verübt worden für jahrelang aufgestauten Unmut.
Was gilt als gesichert?
Unabhängige Organisationen wie das Institut für Kriegsstudien in Washington (ISW) bestätigten die Zusammenstöße zwischen Assad-treuen Kräften und Einheiten der Übergangsregierung und sprachen von koordinierten Angriffen einer neuen Aufstandsbewegung. Die Alawiten seien unterstützt worden von "Schmuggler-Netzwerken der Hisbollah". Ziel sei es gewesen, einen Aufstand unter den lokalen Alawiten zu initiieren. Das ISW hält es für gut möglich, dass vergleichbare Operationen von Assad-treuen Verbänden auch in Zukunft und in anderen Regionen Syriens stattfinden können.
Auch Syrien-Experte Carsten Wieland erklärt gegenüber unserer Redaktion: "Die Assad-treuen Kräfte handeln nicht alleine. Sie werden vom Iran unterstützt, der versucht, seinen Einfluss in Syrien dadurch wieder aufzubauen. Auch Russland wird seine Chance nutzen, wieder eine Rolle zu spielen." Es gebe genug Akteure, die die Übergangsregierung scheitern sehen wollen.
Die Vorwürfe, es würde sich bei den Übergriffen um einen gezielten Völkermord handeln, hält Wieland für überzogen. "Für einen Genozid muss eine Auslöschungsabsicht einer ethnischen oder religiösen Gruppe vorliegen. Genau dies ist ja in Syrien nicht der Fall, da die Massaker keine erklärte Regierungspolitik waren und sind."
Wie könnte es weitergehen?
Am vergangenen Montag hat die Übergangsregierung in Damaskus ein Abkommen mit den kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) unterzeichnet. Die Milizen, die den Nordosten des Landes kontrollieren, sollen sich demnach in den neuen syrischen Staat eingliedern. Der Vertrag sichert den Kurden volle Staatsbürgerrechte zu. Sie sollen wie alle anderen Syrer bei der politischen Teilhabe berücksichtigt werden.
Der Syrien-Experte und langjähriger UN-Berater Wieland begrüßt die Einigung und erklärt: "Das Abkommen mit den Kurden im Norden ist enorm wichtig zur Stabilisierung Syriens." Es sei nun essenziell, dass beide Seiten sich vertrauen können und die Einigung Bestand habe. Und die Kurden sind natürlich nicht die eintige Minderheit in Syrien. Ebenso wichtig seien Verständigungen mit den Drusen, Christen und anderen gesellschaftlichen Gruppen.
Über den Gesprächspartner
- Carsten Wieland ist Nahost-Experte, langjähriger UN-Berater, Nahost- und Konfliktexperte. Er ist Associate Fellow am Geneva Centre for Security Policy (GCSP) und Fellow des Middle East Centre am Peace Research Institute Oslo (PRIO). Von 2013 bis 2019 arbeitete er für drei UN-Sondergesandte für Syrien als Senior Expert für die innersyrischen Verhandlungen und Senior Political Advisor.
Verwendete Quellen
- Einschätzung von Carsten Wieland
- Amnesty.at: Syrien: Grausame Tötungen von Zivilpersonen in den nordwestlichen Küstengebieten müssen untersucht werden
- Snhr.org: 803 Individuals Extrajudicially Killed Between March 6-10, 2025
- auswaertiges-amt.de: Auswärtiges Amt zur Lage in Syrien
- Understandingwar.org: Understanding Syria’s Emerging Insurgency
- Focus.de: SyrienMuhammad al-Dscholani: Steckbrief des HTS-Islamisten
- katholisch.de: Kirche in Sorge um Syrien – Erzbischof Mourad beklagt Völkermord
- tagesschau.de: Die Angst der Alawiten