Giorgia Meloni krempelt den Staat um. Mit einer Reform will sie die Mehrheit im Parlament festigen und die Italiener ihren Regierungschef selbst wählen lassen. Schwächt das Vorhaben die Demokratie?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lea Hensen sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Als sich die Italiener nach dem Zweiten Weltkrieg zusammensetzten, um an einer neuen Verfassung zu arbeiten, wollten sie vor allem eins: Nie wieder zulassen, dass sich eine Einzelperson an die Spitze ihres Staates stellt. Vor diesem Hintergrund klingt das, was Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni mit Italien vorhat, höchst gefährlich.

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Rund ein Jahr nach Amtsantritt will die rechte Regierungschefin die Verfassung ändern. Der Ministerpräsident soll in Zukunft direkt vom Volk gewählt werden und mehr Macht im Parlament bekommen. Melonis ultrarechte Partei "Fratelli d’Italia" steht in direkter Erblinie zum italienischen Faschismus – das Vorhaben lässt unwillkürlich an den "Duce" Mussolini denken.

Meloni spricht von der "Mutter aller Reformen", sie will "Italien endlich in die dritte Republik" führen. Damit meint sie das Ende der italienischen Verhältnisse. Seit dem Abgang von Berlusconi hielt keine Regierung mehr bis zum Ende ihrer Legislaturperiode durch. Immer wieder musste der Staatspräsident die Regierung retten, indem er einen neuen Mann auf den Chefsessel setzte, über den die Wähler gar nicht abgestimmt hatten. Viele fühlten sich politisch umgangen.

Wechselhafte Politik beenden

Mit ihrer Reform will Meloni die ständigen Wechsel in der Politik vermeiden. Die Wähler sollen über einen Ministerpräsidenten abstimmen, der mit seinem Bündnis gleich 55 Prozent der Sitze in den Kammern bekommt. Dafür reicht eine relative Mehrheit. Michele Prospero, Professor für Politikwissenschaft an der Sapienza-Universität Rom, findet das höchst problematisch.

"Die Regierung will mit der Reform einen Konsens erzwingen", sagt er. "Wenn eine Stimme im ersten Wahlgang ausreicht, um mit dem Ministerpräsidenten auch gleich die große Mehrheit in den Kammern zu bestimmen, werden Legislative und Exekutive zusammengeführt." Mit anderen Worten: Das Parlament hat keinen Einfluss mehr auf die politischen Geschicke.

Mit einer Ausnahme: Sollte der Ministerpräsident die Zustimmung seines Bündnisses verlieren, kann ihn das Parlament genau einmal ersetzen. Allerdings nur durch einen Kandidaten, der die gleichen Ziele verfolgt. Damit ist ein politisches Programm für mindestens fünf Jahre gesichert. Mit der Reform will Meloni auch sogenannte "Technokraten" verhindern: parteilose Experten, die die Scherben der zerrütteten Machtverhältnisse wieder zusammensetzen und Italien durch eine Krise bringen, wie es Mario Monti von 2011 bis 2013 tat.

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Meloni ist bereits jetzt sehr mächtig

Allerdings hat Meloni nicht ganz Unrecht, wenn sie von einem "ständigen Wechsel" spricht. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges hatte Italien 68 Regierungen mit einer durchschnittlichen Dauer von anderthalb Jahren. Immer wieder entstehen neue Parteien und Bündnisse, die sich gegenseitig die Wähler und Mitglieder klauen.

Allein das sozialdemokratische "Partito Democratico", derzeit die größte Oppositionspartei, geht auf vier weitere Parteien und zwei Bündnisse zurück – Parteichef Matteo Renzi trennte sich zuletzt von seinen Genossen und gründete eine neue Partei. Braucht es eine Reform, um diese Machtkämpfe zu überwinden?

Nicht unbedingt, sagt Prospero, und vor allem: nicht mit dieser Regierung. "Meloni ist bereits jetzt sehr mächtig. Das Rechtsbündnis hat die Mehrheit in den Kammern, das Parlament ist schon jetzt geschwächt", sagt er. "Meloni regiert auf Basis von Dekreten, sie verabschiedete so viele Dekrete wie keine andere Regierung zuvor." Die Rechtsakte treten ohne Beteiligung des Parlaments in Kraft – die Machtverhältnisse werden also per se umgangen. Die aktuelle Regierung erlässt im Schnitt 3,6 Dekrete im Monat. Dieser Regierung mehr Macht zu geben, ist nach Meinung des Politikwissenschaftlers keine gute Idee.

"Neues Kapitel in unserer Geschichte"

Staatspräsident Sergio Mattarella hat den Gesetzesentwurf am Donnerstag unterzeichnet. Nun muss das Parlament abstimmen. Für eine Verfassungsänderung braucht es wie in Deutschland eine Zwei-Drittel-Mehrheit in beiden Kammern. Ob die zustande kommt, ist fraglich. Die Reform sei "schlampig und gefährlich", sagte Elly Schlein, Chefin der der Sozialdemokraten.

Carlo Calenda, Kopf der pro-europäischen Partei "Azione", spricht abschätzig von einem "italienischen Weg, den die Welt noch nie gesehen hat". Auch Matteo Renzi, der eine Zustimmung nicht kategorisch ausschließt, äußerte vorsichtig: "Ja – zur Direktwahl des Ministerpräsidenten, Nein – zur Pfuscherei."

Wenn die Kammern nicht zustimmen, kann Meloni das Volk mit einem Referendum befragen. Daran waren in der Vergangenheit schon Silvio Belusconi und Matteo Renzi mit ähnlichen Vorhaben gescheitert. Michele Prospero findet es dennoch realistisch, dass die Reform durchgesetzt wird.

"So wie andere Gesetzesänderungen der Regierung ist auch diese stark ideologisch aufgeladen", sagt er. Meloni spricht zum Beispiel von einem "neuen Kapitel in unserer Geschichte", von einer "historischen Verantwortung", die sie erfüllt. Den Italienern fehlt es an politischem Selbstbewusstsein – gut möglich, dass sie dafür anfällig sind.

Die Macht des Mattarella

Woran die Reform dann aber doch noch scheitern könnte, ist, dass Meloni das Amt des Staatspräsidenten schwächen will. Der genießt in Italien besonderen Respekt: Sergio Mattarella gilt genau wie sein im September verstorbener Vorgänger Giorgio Napolitano als ruhendes Pendel im politischen Chaos. Hochintelligente, geschichtsbewusste Männer, die sich der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet fühlen und sachorientiert sind – ganz im Gegensatz zur Regierung.

Mit der Reform wird dieser Garant gefährdet. Bislang ernennen die Staatspräsidenten die Ministerpräsidenten und auf Vorschlag derer dann die Minister. Gleichzeitig können sie das Parlament auflösen und Neuwahlen ausrufen. Meloni betont zwar, dass sie an diesen Befugnissen nicht rütteln möchte. Tatsächlich will sie aber dem Volk die Wahl des Ministerpräsidenten überlassen. "Der Staatspräsident hat dann keine Wahlfreiheit mehr", sagt Prospero. "Sein Amt wird weitgehend entmachtet."

Den meisten Italienern wird das nicht recht sein: Umfragen zufolge vertrauen rund 60 Prozent auf Staatspräsident Sergio Mattarella. Die Beliebtheitswerte von Giorgia Meloni liegen hingegen laut Nachrichtenagentur Ansa bei rund 40 Prozent.

Meloni möchte ihre Verfassungsreform in 2029 umsetzen. Es wird kein Zufall sein, dass genau dann die Amtszeit des Staatspräsidenten endet.

Über den Gesprächspartner:

  • Michele Prospero ist ordentlicher Professor für Politikwissenschaften und Rechtsphilosophie an der Sapienza-Universität Rom und veröffentlicht Beiträge, unter anderem in der Zeitung "Unità". In den vergangenen Jahren hat er zu theoretischer Philosophie und italienischem Rechtssystem geforscht.

Verwendete Quellen:

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