Beim Streit um Schadstoff-Grenzwerte und Diesel-Fahrverbote flogen bei Anne Will die Fetzen. Besonders zwei Professoren ließen kein gutes Haar aneinander.

Eine Kritik

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"Eine alte Debatte, die in neuen Schläuchen daher kommt", kündigt Anne Will zu Beginn ihrer Sendung an. Tatsächlich: Seit Jahren diskutieren Politiker und Bürger über Luftverschmutzung, seit einigen Monaten stehen in Deutschland auch Diesel-Fahrverbote auf der Agenda.

Nun hat der Streit durch eine neue Einschätzung von Experten einen völlig neuen Dreh bekommen.

"Anne Will": Was ist das Thema?

Mehr als 100 deutsche Lungenärzte haben die Debatte um Diesel-Fahrverbote in den letzten Tagen mit ihrer Kritik am Nutzen von Schadstoff-Grenzwerten neu entfacht. Studien über die Gesundheitsgefahr von Stickoxiden und Feinstaub sollten neu bewertet werden, fordern die Kritiker.

Doch nationale und internationale Lungenfachärzte – darunter das Forum der Internationalen Lungengesellschaften (FIRS) – widersprechen. Sie stimmen den deutschen und europäischen Standards sowie denen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu und stellen die Seriosität der Kritiker in Frage.

Anne Will diskutierte mit ihren Gästen, was für die Neudefinition von Grenzwerten spricht und was dagegen und wie verhältnismäßig Fahrverbote sind.

Wer sind die Gäste?

Annalena Baerbock: Die Co-Vorsitzende der Grünen äußerte sich kritisch zu den Grenzwert-Kritikern und verwies auf das Vorsorgeprinzip des Staates. Alle Menschen, auch Schwangere, kleine Kinder und chronisch Kranke, hätten ein Recht auf saubere Luft – auch an hoch belasteten Straßen. Hart ging Baerbock mit dem Bundesverkehrsministerium ins Gericht, das bisher keine Hardwarenachrüstungen gegenüber der Automobilindustrie durchsetzte. Ihr Vorwurf: Das Ministerium wolle wegen des Drucks der Konzerne mit Hilfe der neuen Einschätzung der Lungenärzte "die Fakten beugen". Ein angriffslustiger Abend der Grünen-Politikerin.

Steffen Bilger: Mit dem CDU-Staatssekretär im Verkehrsministerium legte sich Baerbock am meisten an. Der konterte, auch früher hätten sich Wissenschaftler "sehr kritisch zu den Grenzwerten" geäußert. Die Luft in Deutschland sei "so sauber wie seit Jahrzehnten nicht". Zudem äußerte er Zweifel an der Rechtmäßigkeit einiger deutscher Messstationen. Bilger verwies auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes, wonach Fahrverbote unverhältnismäßig seien, wenn die Grenzwerte nur knapp überschritten würden. Ein souveräner Auftritt des jungen Spitzenbeamten, mit dem sein Minister Andreas Scheuer (CSU) zufrieden gewesen sein dürfte.

Judith Skudelny: Die umweltpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion zweifelte die Richtigkeit der Schadstoff-Messungen an und sprach sich gegen Fahrverbote aus. Die Leute würden "kalt enteignet", wenn sie ihre Diesel-Fahrzeuge nicht mehr benutzen könnten. "Falsch gemessene Messwerte mit fraglichen Grenzwerten führen niemals zu angemessenen Maßnahmen", sagte sie.

Heinz-Erich Wichmann und Dieter Köhler: Der eine (Wichmann) hat die aktuellen Stickoxid-Grenzwerte für die WHO mit mehr als 50 Wissenschaftlern miterarbeitet. Der andere (Köhler) ist Initiator des Briefes der Grenzwert-Kritiker und behauptete, ihm sei in seiner Zeit als Lungenfacharzt nie ein Toter durch erhöhte Stickoxid-Belastung untergekommen. Dementsprechend ging es zwischen den Professoren zur Sache.

Wichmann nannte Köhler einen Außenseiter und versuchte seine wissenschaftliche Glaubwürdigkeit zu beschädigen. Köhler stellt die These auf, Wichmann und seine Kollegen hätten wegen der Abhängigkeit von Forschungsgeldern letztlich nur herausgefunden, was ihr Auftraggeber, die Weltgesundheitsorganisation, hören wollte.

Verschränkte Arme, Kopfschütteln, das Aufzählen eigener Verdienste, gegenseitiges Ins-Wort-Fallen: Der Streit der Professoren hatte etwas slapstickhaftes. Leider konnte der Laie den Fachbegriffen und ständigen Verweisen auf andere Fachkollegen, die dieses oder jenes gesagt hätten, manchmal nur schwer folgen.

Was war das Rededuell des Abends?

Zwischen den Professoren krachte es, aber auch Staatssekretär Bilger und Grünen-Frontfrau Baerbock gingen nicht zimperlich miteinander um: "Sie wollen ja nicht mal diskutieren", schimpfte Bilger. "Sie wollen die Diskussion über die Grenzwerte abwürgen. Sie sind nicht dazu bereit über die Messerverfahren in Deutschland zu diskutieren. Das sind die Grünen in der Verantwortung überall dagegen."

Baerbock ging zur Gegenattacke über "Was mir wirklich Sorge macht, ist, dass das aus einem Ministerium kommt." Damit meinte sie die aus ihrer Sicht unwissenschaftliche Kritik an den jetzigen Grenzwerten

Baerbocks Stimme wurde lauter, als sie zum wiederholten Mal auf den mangelnden Willen des Ministeriums verwies, die Automobilindustrie zu Hardwarenachrüstungen zu zwingen. Ein Rededuell, das niemand so recht für sich entscheiden konnte.

Was war der Moment des Abends?

Schadstoff-Experte Wichmann reagierte auf die Frage zur möglichen Neubewertung der Stickoxid-Grenzwerte gereizt. Ob er Köhlers Vorschlag zu einer Erhöhung für vertretbar halte, wollte Anne Will wissen. "Wir sind jetzt nicht auf dem Gesundheitsbasar", schimpfte Wichmann. Doch genau so wurde in der Runde manchmal über die Grenzwerte gefeilscht.

Wie hat sich Anne Will geschlagen?

Die Gastgeberin bewies durch kritische Nachfragen – wie so oft – Biss. Stark war ihre Frage, ob Köhler und seine Kritiker-Kollegen tatsächlich unabhängig seien. Hintergrund: Ein beteiligter Lungenfacharzt war früher als Motorenentwickler tätig, was dem Vorwurf einer Nähe zur Industrie durchaus Futter gab.

Lacher gab es für ihre Nachfrage, ob besser alle Grünen nicht mehr twittern sollten. Dem ging ein Einspieler voraus, in dem ein Grünen-Politiker angesichts der Zweifel an den Stickoxid-Grenzwerten auf Seiten der Union von "Reichsbürger-Niveau" geschrieben hatte.

Allein den Redeschwall der Professoren hätte Anne Will manchmal bremsen müssen. Deren Beiträge waren zum Teil nur fürs Fachpublikum geeignet und zogen sich arg in die Länge.

Was ist das Ergebnis?

Es war eine Sendung, die den Zuschauer etwas ratlos zurück ließ. Zwei Wissenschaftler, die sich gegenseitig die Fachbegriffe um die Ohren knallen und versuchen, als maximal kompetent zu erscheinen – aber wem soll man Glauben schenken?

Dem, der die Mehrheitsmeinung vertritt? Das wäre nahe liegend. Wobei sich die vorherrschende Meinung beim Blick auf die Geschichte im Nachhinein schon das eine oder andere Mal als Irrglauben erwies.

Also doch dem Kritiker Recht geben? Aber müsste man dann nicht auch die Einschätzung des Umweltbundesamtes aus dem Jahr 2014, das 6.000 vorzeitige Todesfälle wegen der Langzeitbelastung mit Stickstoffdioxid feststellte, in Zweifel ziehen?
Als Durchschnittszuschauer war es letztlich unmöglich, guten Gewissens eine stichhaltige Abwägung zu treffen. Es hilft wohl nur eines: Sollte sich die Kritik an den gegenwärtigen Messwerten tatsächlich als fundiert erweisen, braucht es in den kommenden Jahren neue Studien von WHO oder EU, um neue Empfehlungen herauszugeben.

Die Politik könnte darauf mit einer Änderung der Grenzwerte reagieren. Aber solange gilt, was Annalena Baerbock und Heinz-Erich Wichmann mehrfach betonten: Die aktuellen Grenzwerte sind Recht – und Recht muss eingehalten werden. Ob es kritischen Ärzten, Politiker oder den Autobauern passt oder nicht.

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