• Das gemäßigtere Lager ist auf dem Bundesparteitag der AfD weiter ins Hintertreffen geraten.
  • Von der neuen Führungsspitze aus Tino Chrupalla und Alice Weidel erwarten Beobachter eine Radikalisierung.
  • "Die AfD wird gemäßigtere Mitglieder verlieren", ist sich Politikwissenschaftler Matthias Freise sicher. Er analysiert, welchen Kurs die AfD einschlagen könnte.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen der Autorin bzw. des zu Wort kommenden Experten einfließen. Hier finden Sie Informationen über die verschiedenen journalistischen Textarten.

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Auf ihrem Bundesparteitag im sächsischen Riesa hat die AfD am vergangenen Wochenende einen neuen Vorstand gewählt. Die neue Doppelspitze wird gebildet von Tino Chrupalla und Alice Weidel. "Heute beginnt der Aufbruch der AfD", hatte Chrupalla nach seiner Wahl gesagt und angekündigt, die "Ära Meuthen" sei beendet. Weidel kündigte derweil an: "Wir müssen als Oppositionspartei wahrgenommen werden." Dazu reiche kein "Kuschelkurs".

Beobachter haben die Wahl von Weidel und Chrupalla bereits einstimmig als Radikalisierung gewertet. Denn das als gemäßigter geltende Lager räumte mehrere Niederlagen ein – sowohl personell als auch inhaltlich. Norbert Kleinwächter und Nicolaus Fest, die als Gegenkandidaten antraten, unterlagen deutlich.

Strategischer Strippenzieher Björn Höcke?

Die hessische Bundestagsabgeordnete Joana Cotar, Vertreterin der gemäßigteren Kräfte in der AfD, äußerte am Rande des Parteitags, Chrupalla habe nun "die Kollegen an seiner Seite, die er wollte". Das frühere Meuthen-Lager sei in der Parteispitze nicht mehr repräsentiert. Sie hätte sich einen "Imagewandel" durch ein gemäßigteres Auftreten gewünscht. "Das war auf Bundesebene nicht gewollt", so Cotar.

Besonders im Fokus steht der thüringische AfD-Landeschef Björn Höcke. Er gilt vielen als strategischer Strippenzieher im Hintergrund. Die Partei folgte seinem Vorstoß, die Partei nun von einer Doppelspitze führen zu lassen, ab 2024 aber eine Einer-Spitze möglich zu machen. Auch mit dem Antrag, den Verein "Zentrum" von der sogenannten Unvereinbarkeitsliste der Partei zu streichen, konnte der Rechts-Außen sich durchsetzen.

Was bedeutet der Sieg des rechten Lagers über die sogenannten Gemäßigten, die mit der AfD eine national-konservative, bürgerliche Alternative zur Union schaffen wollten? "Die AfD bewegt sich in Richtung Zerbrechen, es fragt sich nur, wie schnell das passieren wird", ist sich Politikwissenschaftler Matthias Freise sicher.

Die Partei sei völlig gespalten in stramm Rechte und "Gemäßigtere", diese Flügel seien vor allem entlang der Linien Ost und West erkennbar. "Aktuell sieht es so aus, als ob sich die radikalen Kräfte in der AfD durchsetzen", sagt der Experte.

AfD im Osten etabliert

In den Ost-Parlamenten ist die AfD noch stark vertreten. Bei der letzten Landtagswahl in Thüringen 2019 fuhr die AfD 23,4 Prozent ein und landete auf Platz 2 hinter der Linkspartei. In Schleswig-Holstein aber schaffte sie mit 4,4 Prozent bei der Landtagswahl im Mai den Sprung ins Parlament nicht mehr, in Nordrhein-Westfalen reichte es mit 5,4 Prozent nur äußerst knapp. In Niedersachsen, wo im Oktober die nächsten Landtagswahlen stattfinden werden, liegt die AfD in aktuellen Umfragen bei sechs Prozent.

"Die AfD muss momentan so schrill und radikal wie möglich auftreten, damit sie noch in den Krisen wahrgenommen wird", analysiert Experte Freise. Sie habe sich immer als Antisystem-Partei präsentiert, das funktioniere nun nicht mehr.

Kampf um Aufmerksamkeit

"Die AfD kämpft nun um Aufmerksamkeit, indem sie sich radikalisiert", sagt Freise. Er prognostiziert, dass die eher gemäßigten Personen die Partei verlassen werden – dem Beispiel Meuthens folgend. Der ehemalige Bundessprecher hatte die AfD Ende Januar mit Verweis auf eine zunehmende Radikalisierung verlassen. Kurze Zeit später war entschieden worden, dass der Verfassungsschutz die gesamte AfD als rechtsextremistischen Verdachtsfall einstufen darf.

"Allein durch die Überwachung durch den Verfassungsschutz ist davon auszugehen, dass viele Mitglieder die Partei verlassen", sagt Freise. Die Parteimitglieder müssten sich, beispielsweise auch angesichts ihres Jobs, fragen, ob sie Mitglied in einer Partei sein könnten, die überwacht wird. "Das kann karrieregefährend sein", erklärt der Politikwissenschaftler. Für die Mitglieder der AfD dürfte es aus seiner Sicht schwierig werden, eine andere Parteiheimat zu finden.

Schließlich wolle die AfD vor allem diejenigen ansprechen, die im etablierten politischen Parteiensystem für sich keine Partei finden würden. "Die AfD wird sich auch weiterhin außerhalb des etablierten Parteiensystems positionieren und den Anspruch erheben, für die Menschen da zu sein, die mit dem etablierten Parteiensystem abgeschlossen haben", sagt Freise.

Mit Blick auf die Wählerschaft erwartet er aber nicht, dass die AfD völlig verschwindet. "Dafür ist sie bereits zu etabliert, vor allem im Osten. Die Frage ist aber, was im Westen passiert", sagt Freise. Hier rechnet er mit weiteren Verlusten bei Landtagswahlen. Gut möglich, dass die AfD sich bei weiterer Radikalisierung zu einer reinen Ost-Partei entwickele.

Ein Verbotsverfahren ist denkbar

Mit einem zeitnahen Verbot der Partei rechnet Freise allerdings nicht. "Das Grundgesetz sieht ein Parteienverbot zwar ausdrücklich vor, es ist aber unwahrscheinlich, dass ein AfD-Verbot ansteht", schätzt er. Die Hürden dafür sind hoch: In der Geschichte der Bundesrepublik hat es bereits mehrmals entsprechende Eröffnungsanträge gegeben, bisher sind aber erst zwei Parteien vom Bundesverfassungsgericht verboten worden: die SRP, eine Nachfolgeorganisation der NSDAP, und die KPD.

Ein Verbotsverfahren gegen die NPD scheiterte 2017 aufgrund der Bedeutungslosigkeit der Partei im politischen Geschehen. "Wenn sich in der AfD allerdings Personen durchsetzen, die noch offensichtlicher und radikaler als es bereits der Fall ist gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung antreten, dann kann es passieren, dass sich die Partei einem Parteiverbotsverfahren stellen muss", sagt Freise.

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Über den Experten:
PD Dr. Matthias Freise ist Politikwissenschaftler an der Universität Münster. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Vergleichende Politikwissenschaft, Demokratietheorie und Europaforschung.

Verwendete Quellen:

  • Wahlrecht.de: Sonntagsfrage Niedersachsen. Abgerufen am 20. Juni 2022
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